©Thea Nivea
Thea Nivea Glosse
Thea Nivea
Hi, ich bin Thea Nivea. Nivea hab ich von meinem Vater. Weil ich als Kind mal Nivea gegessen habe. Erklärt er jedem, ders nicht hörn will. Überhaupt erklärt er reichlich viel. Damit ich durchblicke, sagt er. Dabei blick ich schon durch, sogar bei Politik. Oder bei Fußball. Und erklär ihm auch manchmal was. Oder meine Mutter mischt sich ein. Was dabei raus kommt, na ja, könnt Ihr selbst lesen, jeden Monat. Wenn Ihr mir was erklärn wollt, schreibt mir einfach: t.nivea@frizzmag.de
Wald ist eine schöne Form der Agglutinierung, sag ich. Der Agglutinierung von was, fragt mein Vater. Von Bäumen, sag ich. Was wird das, fragt meine Mutter, reitest du jetzt auch auf diesem Thema rum? Welches Thema, fragt mein Vater. Gleisdreieck an der Heidelberger oder Wendeschleife im Ludwigshöh-Viertel, sag ich. Das ist eben ein Konflikt, sagt meine Mutter, zwischen Walderhalt und sinnvoller Straßenbahnanbindung. Wie viele Baumentnahmen wollt ihr Grünen eigentlich noch vornehmen, fragt mein Vater. Baumentnahmen, sag ich, sehr vornehm ausgedrückt. Früher, sagt mein Vater, konnte man grünen Wahlprogrammen entnehmen, dass das Entnehmen von Bäumen tabu ist. Tabu war auch, sag ich, das Beschönigen von Begriffen. Euphemismen nennt man das, sagt mein Vater. Ich wollte es, sag ich, verständlich ausdrücken. Weil ich es sonst nicht kapiert hätte, sagt meine Mutter, vielen Dank. Der Empfänger entschlüsselt die Botschaft, Mama, sag ich. Sags wie für Doofe, sagt meine Mutter, das meint ihr doch? Wir meinen das politisch, sagt mein Vater, nicht persönlich, erinnere dich mal, wie wir uns früher aufgeregt haben über: Kernkraft statt Atomkraft. Stimmt, sagt meine Mutter, oder über den finalen Rettungsschuss für gezielten Todesschuss. Da gibts nen Comic, sag ich, in Papas Arbeitszimmer, wo zwei Polizisten an der Tür stehen und zu dem Bewohner sagen: Wir haben hier eine einstweilige Erschießung gegen sie. Gerhard Seyfried, sagt mein Vater, begnadeter Karikaturist. Hast du den Band noch, frag ich, Freakadellen und Bulletten heißt der, glaub ich. Klar, den hab ich noch, sagt mein Vater. Wie sind wir da jetzt drauf gekommen, frag ich, was war gerade unser Thema? Baumentnahmen in der ehemaligen Stadt im Walde, sagt mein Vater, für sinnlose Tramtrassen. Das wird alles wieder aufgeforstet, sagt meine Mutter, die Lichtwiesenbahn hat sich nach den jüngsten Analysen als sinnvolle Maßnahme herausgestellt. Klar, sag ich, so macht man das, man ändert die Parameter, bis alles passt und man es gut finden muss. Alles schlecht zu reden, sagt meine Mutter, ist auch keine Alternative. War Darmstadt nicht auch mal die Stadt der Künste, frag ich. Da gibts sogar ein Buch dazu, sagt mein Vater, die Erstausgabe von 1967 hab ich mir mal antiquarisch gekauft. In Darmstadt leben die Künste auch heute noch, sagt meine Mutter, wir sind immerhin gerade Weltkulturerbestadt geworden. Digitalstadt sind wir auch, sag ich, und Wissenschaftsstadt. Und eine weltoffene Stadt der Vielfalt, sagt meine Mutter. Und Schwarmstadt, sagt mein Vater, jedenfalls nach Meinung des Ex-OBs. Du meinst Schwammstadt, sag ich. Auch, sagt meine Mutter, jedenfalls wollen wir das werden. Kein einfaches Unterfangen, sagt mein Vater, bei einem Untergrund von einerseits Fels und andererseits Sand. Also, sag ich, dann ist Darmstadt auch eine schöne Form der Agglutinierung. Von was, fragt meine Mutter. Von Titeln und Slogans, sag ich. Heißt das nicht eigentlich Agglutination, fragt mein Vater. Kann sein, sag ich, ich kenn das Wort nur aus einem Gedicht. Aha, sagt meine Mutter, ein Gedicht von wem? Ron Winkler, sag ich, der hat mal den Leonce-und-Lena-Preis gewonnen, 2005, glaub ich. Da warst du 12, sagt meine Mutter. Na und, sag ich, mit 12 hab ich mich freiwillig für Gedichte interessiert, mit 15 musste ich unfreiwillig Glossen schreiben, und das Gedicht mit der Agglutinierung ist halt hängengeblieben. Kannst du das etwa auswendig, fragt mein Vater. Ich glaub, ich kriegs noch hin, sag ich, aber das Ende versteht heute keiner mehr. Ich bin gespannt, sagt meine Mutter. Na dann, sag ich, konzentrier ich mich mal: Wald ist eine schöne Form von Agglutinierung, die Bäume zum Beispiel verästeln sich in der Regel perfekt und wirken trotzdem natürlich, manchmal bewegt sich etwas zwischen den Zweigen, es könnte ein Ding sein oder auch eine Art idyllischer Information, ein geflügelter Ort, der das Potenzial hat, weitgehend richtig zu sein, ich kann dir das gerne mal brennen. Sehr schön, sagt mein Vater. Das Ende, sagt meine Mutter, versteh ich tatsächlich nicht.