1 von 4
© Klaus Mai
Jürgen Barth
2 von 4
© Klau Mai
Jürgen Barth
3 von 4
© Klau Mai
Jürgen Barth
4 von 4
© Klau Mai
Jürgen Barth
Ein Schlacks, quirlig, hellwach. Wortwitz ist immer dabei, wenn man mit ihm redet, subtile Ironie im tiefsinnigen Gespräch. Freigeist, unorthodoxer Widerständler, politischer Chaot mit aufgeräumtem Wäscheschrank - ein Glücksfall für Darmstadt.
FRIZZmag: Hi Jürgen, ich freu mich riesig, dass ich Dich interviewen darf.
Jürgen Barth: Das ist gegenseitig, ich freue mich ganz besonders auf das Interview.
Du wirst 80, unfassbar, wenn man Dich so sieht. Ich weiß noch wie heute, vor 20 Jahren, da war ich fünf, als Du um Mitternacht auf der Bastion bei Deinem 60. Geburtstag nackt und kahlgeschoren aus nem Pappkarton rausgekommen bist. Was erwartet uns am 27. Juli in der Knabenschule?
Es ist immer Brauch bei mir, dass ich bei meinen runden Geburtstagen sowohl körperlich etwas zeige als auch geistig etwas vorbringe. Damals kam ich geschoren aus dem Pappkarton, die geistige Sache weiß ich nicht mehr so genau. Am 70. Geburtstag waren es das Gedicht von Schiller „Die Kraniche des Ibykus“ und am Seil in der Knabenschule unters Dach zu steigen. Diesmal hab ich mir einen Boxkampf ausgesucht und möchte auf der Geige eine kleine Beethoven-Sonate spielen.
Und auf das Boxen hast Du Dich entsprechend vorbereitet?
Ja, es gibt am Kavalleriesand ein Boxzentrum und einen sehr, sehr netten Trainer, bei dem fühle ich mich sehr wohl. Boxen ist eigentlich ein Sport wie jeder andere, man muss fit sein, man muss Ausdauer haben, man muss beweglich sein. Es macht mir großen Spaß, in den Boxsport hineinzuriechen, da sind ganz andere Menschen. Ich war im Mai zu Besuch bei der TG 75 bei einer Boxveranstaltung in der Heinz-Reinhard-Halle, einige Kämpfe waren sehr schön, einige ein bisschen brutal. Da sitzen dann 500 Türken, da ist kein Deutscher dabei, vielleicht mal ein Rumäne oder so. Das sind alles Leute, die dem Boxen etwas abgewinnen, die trinken kaum Alkohol, trinken sehr viel Saft und haben große, breite Körper.
Und Geige spielen hast Du schon früher gelernt?
Ja, ich war ja Schüler im Kloster Scheyern, und da ich über eine gewisse Musikalität verfüge, habe ich im Chor gesungen und mir auch ausgesucht, Geige zu spielen. Zwei Jahre lang bekam ich Geigenunterricht in einer Gruppe von einem Mönch und habe das sehr genossen.
Schon beim 75. und 70. Geburtstag bist Du presseöffentlich mächtig gewürdigt worden. Kriegt der “Local Hero” jetzt langsam auch noch Kultstatus?
Wenn man 80 Jahre alt wird, dann hat man auch eine ziemliche Zeitspanne vorzuweisen. Und da ich dazu neige, an allem teilzunehmen, ist es nicht verwunderlich, dass mich viele Leute kennen und ich viele Leute kenne. Ob das schon Kultstatus ist, weiß ich nicht.
Ich kenne Dich ja praktisch schon, seit es mich gibt und könnte locker Deine Enkelin sein. Oder, das ist ja nicht untypisch bei Männern in Deinem Alter, Deine Freundin, oder?
Es gibt zwar viele Männer in meinem Alter, die so junges Blut ansteuern, aber ich muss sagen, ich hab mich in dieser Beziehung schon gut ausgelebt. Das ist auch etwas, was ich mit meinem Boxkampf zum Ausdruck bringen will, dass es zwischen Mann und Frau eigentlich keine Freundschaft geben kann. Als Mann begehre ich eine Frau und sie zieht mich an, es ist immer spannungsgeladen, das Verhältnis von Mann und Frau. Von daher kannst Du nicht meine Freundin sein.
Du bist ja auch schon lange und stabil verheiratet?
Ja, natürlich. Mit meiner Barbara bin ich verheiratet seit 1966. Es war auch immer in Ordnung, manchmal auch nicht in Ordnung, aber es hat gehalten.
Du kannst ja auch politisch richtig seriös sein, wie 2016 bei Deiner Rede als Alterspräsident zur Konstituierung der Stadtverordnetenversammlung. Vier Jahre vorher hattest Du Dir selbst (ich zitiere) „das schwere Amt von meinen schmächtigen Schultern” genommen. Warum das Comeback?
Bei der Politik ist es so, wenn man schon ein bisschen Blut geleckt hat, kann man nicht gut davonlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, nicht politisch zu sein, und ich will nicht nur darüber reden, sondern auch mitmachen, mitreden, mitbestimmen, mich überstimmen lassen.
Aber Du hattest es eigentlich nicht vor, denn Du warst auf der UffbasseListe relativ weit hinten?
Ja, genau. Ich bin aber dann, und da bin ich auch stolz drauf, nach vorne gewählt worden auf Platz drei. Vor mir sind nur Kerstin Lau und Georg Hang.
Bis 2005 warst Du bei den Grünen, dann kams zum Zerwürfnis. Ich zitiere noch mal: „Der Fraktionsvorsitzende Partsch ist ein Opponent der Sozialpolitik. Ich hoffe, dass eines Tageswieder ein anderer Wind als der von Partsch bei den Grünen weht. Es bleibt die Hoffnung auf eine neue Generation mit einem lebendigen Politikverständnis. Ich will weiter auf der Seite der Lebendigen bleiben”. Seitdem bist Du Uffbasser, sechs Jahre später wurden Jochen Partsch OB und die Grünen stärkste Fraktion. Heute kooperiert ihr wieder. Sind die heutigen Grünen lebendiger als vor 13 Jahren?
Sicher sind sie nicht lebendiger. Es liegt an etwas anderem. Ich hab das ganze Leben lang immer Nein gesagt, war meistens in der Opposition und jetzt in meinem hohen Alter nehme ich mir heraus, auch mal bei den Gewinnern, bei der Regierung zu sein. Ich unterstütze Jochen Partschs Politik, weil er einige Sachen in Gang gesetzt hat, die jahrelang liegengeblieben sind. Ich erinnere nur an das Nordbad, an die Lincoln-Siedlung, an das Berufsschulzentrum, an die Brücken, die jetzt gerade gebaut werden unten am Bahnhof. Das sind große Brocken, die von Grün-Schwarz angepackt werden, und das will ich gerne auch ein Stück mittragen.
Das Café Scentral ist heute immer noch am Eingang zum Herrngarten, das PolenInstitut im Residenzschloss und nicht in der Oetinger Villa. Ohne Dich wäre das anders. Was ist von den Anfeindungen damals geblieben, Demut oder Genugtuung?
Sicherlich Genugtuung. Ich bin an der richtigen Stelle dazwischen gesprungen bei diesen zwei Sachen, die unmöglich waren. Interessant ist ja auch, dass beides nie mehr zur Debatte gestellt wurde, nachdem es gescheitert war. Da haben die Grünen eingesehen, dass man so nicht gegen das Volk regieren kann. Der Zwist war ja auch von Persönlichem überschattet. Jochen Partsch und ich haben damals zusammen gekämpft, Schulter an Schulter, und ich dachte immer, dass er in meinem Alter wäre. Bis mir nach einiger Zeit klar wurde, dass Jochen Partsch 40 war und eine Karriere vor hatte, ich war 65 und eigentlich schon ein alter Mann. Das war sicherlich auch ein Punkt, warum es zwischen uns gekracht hat. Er wollte nach vorne und ich nicht. Und die Uffbasse-Leute saßen im Stadtparlament neben den Grünen und haben dann gesagt: Jürgen, komm doch zu uns, Du bist viel zu schade für die Grünen.
Du bist heute noch unfassbar aktiv, Uffbasser, Knabenschüler, HoffArtist, Du dotzt durch Darmstadts Szene so ein bisschen wie ein Zebulon - auf ner Sprungfeder statt auf Beinen. In der Schule wärst Du heute wahrscheinlich in der ADHS-Schublade und würdest Ritalin kriegen. Wie war das in Deiner Schulzeit?
Mein Leben war von Anfang an so wie heute. Auch in der Schule war ich immer am Rande des Rausgeschmissen werdens, habe Entschuldigungen gefälscht und schon einiges auf dem Kerbholz. Nicht umsonst hat mein Vater mich mit 16 rausgenommen und nach Schleswig-Holstein zum Arbeiten geschickt. Da hatte ich ein Zeugnis - das hab ich heute noch, da sind von oben bis unten nur Fünfen und Sechsen. Und drunter steht: Jürgen verlässt das Gymnasium, um einen praktischen Beruf zu ergreifen. Das war auch schon eine kleine Dotznummer. Ich möchte aber auch zum Ausdruck bringen, dass ich andererseits sehr penibel bin. Meine Abrechnungen, mein Kleiderschrank, das hat alles eine gewisse Ordnung. Ich kokettiere gerne damit, lustig und lebendig und dotzig zu sein, in Wirklichkeit bin ich aber doch ziemlich genau und auch treu. Ich bin 30 Jahre in der Knabenschule gewesen, 20 Jahre bei den Grünen, ich bin seit über 50 Jahren mit meiner Frau zusammen. Ich bin also eigentlich sehr beständig – bei aller Dotzerei.
Bei all Deiner Umtriebigkeit, sehnst Du Dich manchmal nach Ruhe vor Dir selbst?
Nein. Ich lebe aus einem Antrieb heraus und Reflexion ist auch nicht meine Stärke. Viel lieber als Ruhe zu haben will ich mich unter Druck setzen. Die Unruhe will ich mir zur Aufgabe machen. Ich mache jetzt gerade eine Veranstaltungsreihe zur Studentenbewegung, über die Geschichte vor 50 Jahren, die hier in Darmstadt passiert ist. Ich versuche das ein bisschen aufzuarbeiten, vielleicht auch in einem kleinen Büchlein zu verwirklichen mit dem Titel ‚Revolte in der Provinz‘, frei nach Sabais Darmstädter Lesebuch ‚Lob der Provinz‘. Das Nächste wird die Kriegsforschung sein, die Auftragsforschung an der TU, die wir bekämpft haben. Dann die Kinderladenbewegung von 1968 bis heute - der antiautoritäre Kinderladen, den wir 1968 gegründet haben, hat ja eine Fortsetzung ge- *27.7.1938 in Köln, von 1944-1952 aufgewachsen in Kloster Scheyern/Bayern, danach Odyssee über Kaufbeuren, Köln, Kappeln an der Schlei nach Kassel, 1958 Autoschlosserlehre, Fabrikarbeiter bei Henschel am Band und Abendgymnasiast, 1963 Abitur. Ab 1963 in Darmstadt, Lehramtsstudium (Geografie und Politik), 1. Staatsexamen 1976, Referendariat am Schuldorf Bergstraße, 2. Staatsexamen 1983. Geschäftsführer der Bessunger Knabenschule von 1983 bis 2003, am HoffArt-Theater seit 2014. Mitglied der Grünen von 1985-2005, seit 2005 Uffbasser, Stadtverordneter von 1985 mit Unterbrechungen wg. Rotation bis 2012 und wieder seit 2016. Verheiratet, zwei Kinder, vier Enkel. jürgen_barth.vita funden in den Kindergärten der freien Träger, von denen es in Darmstadt ja viel mehr gibt als evangelische oder katholische.
Autoschlosserlehre, nachträglich Abitur und dann ab 1963 Lehramtsstudium in Darmstadt? Warum bist Du nicht Lehrer geworden?
Ich hatte schlechte Fächer, Erdkunde und Politik, und es war gerade eine Zeit, in der nicht viele eingestellt wurden. Außerdem hatte ich eine bescheidene Note, eine vier im Abschlussexamen. Ich hatte den damaligen Leiter des GBS, Born, in meiner Prüfung, so Nazi-Leute, die wollten mir die Hand geben und zu meiner Vier gratulieren. Da habe ich gesagt, ich beuge mich hier nur der Macht, aber ich gebe ihr keine Hände. Ich habe mich deshalb nie beworben, obwohl ich gerne Lehrer geworden wäre.
Man traut Dir ja locker zu, dass Du 100 wirst. Was also steht an in den nächsten 20 Jahren? Wirst Du endlich anfangen, Deine Memoiren zu schreiben oder reichts nur zum vierten Band Deiner gebundenen Knöllchen?
Also, das wäre vielleicht eine gute Idee, dass ich meine Memoiren anschließe an meine drei Bände der Knöllchen. Die habe ich binden lassen, weil ich es als große Leistung ansehe, dass ich in all den Jahren doch einige Knöllchen fabriziert habe. Die Bücher hab ich gemeinsam mit dem Leiter des Ordnungsamts mal den Beamten vorgestellt, die die Knöllchen verteilen. Und da war dann auch einer dabei, der so im breiten Darmstädterisch zu mir gesagt hat: „Mer sollt ihne dadefür grad nachträglich noch de Führerschei abnemme“.
Also gibt es keinen vierten Band mit Knöllchen?
Nein, das ist vorbei, ich bin ruhiger geworden. Ich bezahle zwar immer noch Knöllchen, so wie jeder andere auch. Aber nicht mehr so wie damals in der APO, da waren wir nicht so drauf, Parkplätze zu suchen oder irgendwie den Bullen auszuweichen. Es war ja auch eine Form des Kampfs, Knöllchen zu kriegen, so komisch das klingt.
Dein Motto ist ja: Uffbasse, uffmucke, grad stehn – und net ducke. Das ist die darmstädterische Kurzfassung eines Goethe-Gedichts, oder?
Ja, das ist das Gedicht: Feiger Gedanken / Bängliches Schwanken, / Weibisches Zagen, / Ängstliches Klagen / Wendet kein Elend, / Macht dich nicht frei. // Allen Gewalten / Zum Trutz sich erhalten, / Nimmer sich beugen, / Kräftig sich zeigen, / Rufet die Arme / Der Götter herbei! Das ist ein sehr schönes Gedicht, das ich auch unserem Sohn aufgeschrieben habe, der mir gesagt hat, er nimmt sich das auch hin und wieder vor.
Mit 60 nackt im Pappkarton, mit 80 im Boxring - wo ist Jürgen Barth am 27. Juli 2038? Und wie stehts dann um Darmstadt und die Welt?
Ich strebe an, bis dahin noch zu leben. Ja, wo steh ich dann? Ich stehe auf der Seite der Kämpfenden, immer noch. Ich beobachte an mir, dass ich nicht mehr so links bin, die Verrücktheiten schon heute mit großer Skepsis verfolge, dass ich eher konservativer werde. Das wird sich auch bis 2038 fortsetzen. Es könnte gut sein, dass ich dann in einer konservativen Partei bin, vielleicht in der CDU, die mir Gnadenbrot gibt, die vielleicht bis dahin auch freundlich und liberal geblieben ist, und mit der ich mich vielleicht dann ganz gut verstehe. Darmstadt ist bis dahin in so eine Art Großstadt versunken, wie Frankfurt oder andere Großstädte. Ich verfolge mit Unruhe dieses Wachstum, das der Oberbürgermeister ja grenzenlos zulässt. Und die Welt? Da hat es vielleicht nochmal Krieg gegeben und ich hoffe, dass unser schönes Darmstadt davon verschont geblieben ist.
Vielen Dank für das Gespräch.
jürgen_barth.vita
*27.7.1938 in Köln, von 1944-1952 aufgewachsen in Kloster Scheyern/Bayern, danach Odyssee über Kaufbeuren, Köln, Kappeln an der Schlei nach Kassel, 1958 Autoschlosserlehre, Fabrikarbeiter bei Henschel am Band und Abendgymnasiast, 1963 Abitur. Ab 1963 in Darmstadt, Lehramtsstudium (Geografie und Politik), 1. Staatsexamen 1976, Referendariat am Schuldorf Bergstraße, 2. Staatsexamen 1983. Geschäftsführer der Bessunger Knabenschule von 1983 bis 2003, am HoffArt-Theater seit 2014. Mitglied der Grünen von 1985-2005, seit 2005 Uffbasser, Stadtverordneter von 1985 mit Unterbrechungen wg. Rotation bis 2012 und wieder seit 2016. Verheiratet, zwei Kinder, vier Enkel.