© Klaus Mai
Daniel Neumann
Daniel Neumann, bekennender Heiner und Jude, ist seit 2008 ehrenamtlicherGeschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Darmstadt und wurde im Februar zu derenVorsitzenden gewählt. Er tritt damit die Nachfolge seines Vaters Moritz Neumann an.
FRIZZ: Hallo Herr Neumann, vielen Dank, dass ich Sie interviewen darf. Ist man eigentlich Darmstädter, wenn der Geburtsort gar nicht Darmstadt ist?
Daniel Neumann: Mindestens gefühlter Darmstädter, mein Geburtsort ist Jugenheim, weil die Hebamme ihr Geburtshaus dort hatte. Mit Ausnahme dieses einen Tages bzw. dieser Nacht habe ich meine gesamte Kindheit in Darmstadt verbracht.
Sie sind in Darmstadt zur Schule gegangen und haben das Abi gemacht. Wo?
An der Bertolt-Brecht-Schule, davor war ich am LGG.
Sind Sie freiwillig zur Brecht?
Nein, wg. bevorstehenden Scheiterns. Das war wg. 50% Faulheit und 50% Widerstand gegen Autoritäten. Das LGG war ja nicht gerade bekannt war für Liberalität und antiautoritäre Lehrmethoden. Die Brecht war dann die Schule, auf der ich mich richtig entfalten konnte. Am LGG wäre ich wahrscheinlich zugrunde gegangen, die Brecht war eine Offenbarung, das muss man einfach so sagen.
Sie sind seit langem ehrenamtlicher Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde Darmstadt und seit ganz kurz deren Vorsitzender. Sind Sie damit jetzt beides?
Ich bin jetzt im Prinzip geschäftsführender Vorsitzender. Vorher war es so, dass der Geschäftsführer dem Vorsitzenden einen Haufen der Verwaltungsarbeit abgenommen hat, nach dem Tode meines Vaters und jetzt ein halbes Jahr später nach meiner Wahl fließen die beiden Ehrenämter zusammen.
Wie groß ist die jüdische Gemeinde Darmstadt und wo findet man sie, also außer hier in der Wilhelm-Glässing-Straße in den Geschäftsräumen und der Synagoge?
Wir haben 650 Mitglieder, das sind die, die religionsgesetzlich auch Mitglieder werden können, dazu kommen noch Familienangehörige, die gar nicht jüdisch sind, sich aber zugehörig fühlen. Das Gemeindegebiet umfasst Darmstadt-Stadt, Landkreis Darmstadt-Dieburg, Kreis Bergstraße und den vorderen Odenwald.
Meine Oma hat mir das mit dem Judentum immer so erklärt: Bei denen ist der Sonntag am Samstag, wenn man, also als Mann, in die Kirche geht, muss man den Hut aufsetzen und nicht abnehmen, und die Juden erkennen Jesus nicht an.
So ist es (lacht).
Also das stimmt so?
Umgekehrt. Eigentlich war der Samstag ja zuerst da. Also, man kann auch sagen, die Christen haben aus dem Samstag den Sonntag gemacht und aus dem Hut aufsetzen den Hut absetzen (lacht).
Soweit die Unterschiede. Und wie würden Sie die Gemeinsamkeiten beschreiben?
Es gibt einen gemeinsamen Gott und es gibt eine gemeinsame Wurzel, weil das Christentum aus dem Judentum entstanden ist. Es hat ja zu allen Zeiten Abspaltungen aus dem Judentum gegeben, und, um es ein bisschen scherzhaft zu sagen, das Christentum ist die erfolgreichste jüdische Sekte.
Was bedeutet für Sie Ihr Glaube in einer säkularisierten Gesellschaft?
Das Judentum dominiert mein Leben. Ich bin Jude durch und durch, sowohl religiös, wie beruflich und privat gesehen. Insofern lässt sich das nicht voneinander trennen. Meine Identität wird davon bestimmt. Mein Leben war früher mehr durch eine säkulare jüdische Ideologie geprägt, hat sich aber zunehmend den Traditionen angenähert, den Ideen, die das Judentum eigentlich vertritt.
Darmstadt bezeichnet sich selbst als weltoffen und tolerant. Erleben Sie das auch so?
Von der Grundausrichtung der Stadt empfinde ich das absolut so. Ich fühle mich in Darmstadt sehr wohl und habe selten ein Gefühl von unmittelbarer Bedrohung. Das empfinden die Sicherheitsbehörden ein wenig anders, deshalb haben wir hier Zäune vor der Tür und Kameras und Polizeischutz. Im Gegensatz zu anderen Städten habe ich hier nicht das Gefühl, mein Judentum verstecken zu müssen. Andrerseits sind wir, wenn wir nicht gerade orthodox sind, in der Öffentlichkeit als Juden nicht erkennbar. Man wird erst damit konfrontiert, wenn die Leute erfahren, dass man jüdisch ist. Da wird man mit Stereotypen konfrontiert, die überall in der Welt vorhanden sind, in Darmstadt sicher weniger als woanders.
Nach ihrer Wahl haben Sie gesagt: „Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, für die Grundwerte unserer Verfassung, die Bewahrung unseres Rechtsstaats und die Stärkung unserer zivilgesellschaftlichen Ordnung einzutreten.“ Sehen Sie durch die aktuellen Entwicklungen diese Werte gefährdet?
Absolut. Es gibt eine Tendenz zur sprachlichen Verrohung, in den sozialen Medien ganz extrem, aber auch in der Sprache, die die Politiker benutzen. Es gibt stark reaktionäre Strukturen in vielen Ländern der EU. Es ist notwendig, dem die Idee einer offenen Gesellschaft entgegenzusetzen. Denn, wenn man diesen Kräften zu viel Raum einräumt und nicht rechtzeitig reagiert, kann es durchaus zu spät sein. Wir kennen ja die historischen Blaupausen, die Entwicklungen damals haben ja nicht damit angefangen, dass man eine bestimmte Gruppe in die Gaskammer geschickt hat, sie begann überwiegend propagandistisch, sie begann sprachlich, sie begann reaktionär, und die Menschen haben sich Stück für Stück daran gewöhnt, haben die Leute gewählt und ihnen ihre demokratische Legitimation gegeben. Wir müssen bemerken, dass diese Entwicklung bereits wieder begonnen hat und dass sich da eine Gesellschaft entwickelt, die wir nicht wieder haben wollen.
© Klaus Mai
Daniel Neumann Text
Der Ex-Lilien-Kicker Änis Ben-Hatira hat bei seinem Abgang den Spruch abgesetzt: „Die Moslems sind die neuen Juden“. Was halten Sie von solchen Vergleichen?
Das finde ich insofern schon albern, als die Juden schon immer eine Minderheit waren mit damals 18, heute 13 Millionen Menschen, während die Muslime mit 1,7 Milliarden selten in der Situation waren, weltweit als Minderheit wahrgenommen zu werden. Was man Juden historisch vorgeworfen hat, hat nie gestimmt - die Pestverbreitung durch die Juden im Mittelalter z.B. oder die Verschwörungstheorien, die wir heute haben. Hingegen haben Vorurteile, die gegen Muslime entstehen, irgendwo eine wahre Grundlage - ein Ehrverständnis, das im Extremfall zu Ehrenmorden führt z.B. und pauschalisiert wird auf eine ganze Gruppe. Und: Juden hat man oft herabgewürdigt, auf der anderen Seite aber auch überhöht, das gibt es bei Muslimen nicht. Juden sagt man nach, sie seien klüger, reicher als andere oder sie hätten jüdische Geschäftstaktiken. Neulich fragte mich ein Freund: Kannst du mir bei einem Geschäftsgespräch helfen, ihr Juden habt doch so viel Verhandlungserfahrung, historisch. Da konnte ich nur sagen: Sag mal, hast Du noch alle Latten am Zaun, das mag für mich vielleicht als Jurist stimmen, aber nicht als Jude.
Ganz nebenbei: Sind Sie eigentlich Lilien-Fan?
Ach, also, ja, ich hab Sympathien für die Lilien. Ich bin Bayern-Fan, ich hab die Bayern als Kind schon ganz gern gehabt und wurde dafür auch ausgegrenzt. Fan ist vielleicht übertrieben, ich gucke mir die Spiele der Bayern an, weil ich gerne Erfolgserlebnisse habe. Im Leben hat man schon mit genug unangenehmen Dingen zu tun, Dinge, die einen eigentlich deprimieren müssten. Beim Fußball will ich gewinnen. Das tue ich in meinem Leben nicht oft. Und die Mannschaft, die in Deutschland am häufigsten gewinnt, das sind nun mal die Bayern. Wenn ich mal meine masochistische Ader pflegen will, dann guck ich mir ein Lilienspiel an. Wobei ich zugeben muss, dass die Freudenexplosionen, wenn es bei den Lilien mal ein Erfolgserlebnis gibt, viel authentischer und intensiver sind.
Ihr Vater war ja auch Magistratsmitglied. Haben Sie das erlebt als Zeichen vollständiger Partizipation oder eher als Symbolpolitik?
Peter Benz, der damalig Oberbürgermeister, hat meinen Vater überzeugt, in den Stadtrat zu gehen, und er hat das definitiv nicht gemacht, um einen Juden an seiner Seite zu haben. Peter Benz hat die journalistischen und rhetorischen, die analytischen Fähigkeiten meines Vaters geschätzt, und ich glaube, er hat jemanden an seiner Seite gewollt, von dem er wusste, dass er ihm immer ins Gesicht sagt, ob er etwas für richtig oder falsch hält, also eine Art Beraterfunktion. Dass man einen Juden im Stadtrat hatte, war vielleicht ein positiver Nebeneffekt. In anderen Fällen spielt das durchaus eine Rolle, da holt man sich gerne mal Quoten-Juden, Quoten-Muslime oder Quoten-Homosexuelle.
Wenn Sie drei Wünsche erfüllt bekommen könnten, was würden Sie sich wünschen?
Ach, (lacht), oh jeh (denkt nach). Das ist eine unfassbar schwere Frage. Also gut: Bezahlbarer Wohnraum, das ist mein erster, ganz altruistischer Wunsch, weil ich sehe, dass Menschen, die von außerhalb kommen, eigentlich keine Chance haben, eine bezahlbare Wohnung zu bekommen. Der zweite Wunsch: dass wir trotz der fortschreitenden Automatisierung, der neuen sog. technischen Revolution, alle Mensch bleiben, dass wir unsere Menschenwürde behalten. Der dritte Wunsch ist schräg: dass wir alle Anhänger eines ethischen Monotheismus werden. Es ist meine religiös angehauchte Vision, dass alle Menschen glauben, dass es einen Gott gibt, der von uns verlangt, dass wir Gutes tun, uns gut miteinander verhalten und wir es nicht deshalb tun, weil man uns zwingt, sondern weil wir es aus uns heraus so wollen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Daniel Neumann Vita:
* 25.12.1973 in Jugenheim, lebt in Darmstadt und machte sein Abitur an der Bertolt-Brecht-Schule. Er studierte Rechtswissenschaften in Mainz, absolvierte sein Referendariat am Landgericht Darmstadt und ist, nach drei Jahren im Wertpapiermanagement und Börsenhandel, seit 2004 Rechtsanwalt in Frankfurt. Seit 2006 ist er Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, seit 2009 Mitglied des Schiedsgerichts des Zentralrats der Juden in Deutschland und seit Januar 2013 Mitglied im hr-Rundfunkrat. 2008 übernahm er ehrenamtlich die Geschäftsführung der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, zu deren Vorsitzenden er im Februar 2017 gewählt wurde. Neumann ist verheiratet und hat vier Kinder