© Klaus Mai
Tibet Initiative Deutschland Dalai Lama Wolfgang Grader OB Jochen Partsch darmstadtium
Polens Ex-Präsident Lech Walesa, die Anti Atomwaffen Aktivistin Rebecca Johnson und der Dalai Lama - viel mehr gewaltfreie Kompetenz geht nicht. Wir sprachen mit Wolfgang Grader (Foto rechts) von der Tibet Initiative Deutschland und Darmstadts OB Jochen Partsch.
FRIZZmag: Herr Grader, am 19. September kommt der Dalai Lama nach Darmstadt. Sie als Vorsitzender der Tibet Initiative Deutschland sind der Veranstalter. Warum Darmstadt?
Wolfgang Grader: Weil wir wissen, dass wir uns in Darmstadt wohlfühlen werden. Es gibt einen sehr engagierten Oberbürgermeister, der schon länger mit dem Thema Tibet verbunden ist, jetzt schon im zweiten Jahr als bundesweiter Schirmherr der Aktion „Flagge zeigen für Tibet“. Es gibt hier auch eine sehr engagierte Gruppe unseres Vereins, die schon viele Veranstaltungen organisiert hat. Und dann gibt es noch ein paar pragmatische Gründe, wie z.B. die Nähe zum Flughafen Frankfurt.
Herr Partsch, der Dalai Lama in Darmstadt - was bedeutet das für Darmstadt und für Sie als OB?
Jochen Partsch: Das ist eine große Ehre und auch eine große Freude. Der Dalai Lama ist eine große Persönlichkeit, ein weltweites Symbol gegen die Unterdrückung in Tibet, seine spirituellen Beiträge haben weit über das politische Umfeld hinaus Bedeutung. Und mit Lech Walesa, dem Gründer der Solidarnosc, der in Polen den ersten großen Stein in der Mauer, die Europa trennte, zum Wackeln gebracht hat, und Rebecca Johnson von der Anti-Atomwaffenkampagne ICAN, die darauf aufmerksam macht, dass trotz des Endes der Blockkonfrontation noch tausende von Atomwaffen existent sind, haben wir ja noch zwei weitere Nobelpreisträger zu Gast.
Was fasziniert Sie beide am Dalai Lama? Der west-östliche Dialog, den er durch sein Wirken erreicht? Die Verbindung zwischen Wissenschaft und Spiritualität?
Partsch: Das besonders Faszinierende ist seine Verfolgungsgeschichte. Es gibt ihm eine hohe Glaubwürdigkeit, wenn er, ähnlich wie Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela, einen gewaltfreien Weg einschlägt. Das ist gut und faszinierend, weil Gewalt eben häufig die übliche Reaktion ist. Um etwas zu bewirken, setzt der Dalai Lama auf die Kraft des Wortes, des Arguments und der Rede. Er kann viele Positionen wie Harmonie, den richtigen Umgang mit der Natur, soziales Verhalten und auch ein christliches Motiv wie Nächstenliebe in einer Sprache zum Ausdruck bringen, die die Herzen und Köpfe der Menschen erreicht. Auch mich, und ich bin kein Buddhist.
Haben Sie beide persönliche Erfahrungen mit dem Dalai Lama?
Grader: Ich hab ihn schon öfter gesehen, sowohl in Indien als auch in Deutschland, zuletzt Ostern 2018. Zum 25-jährigen Jubiläum der Tibet Initiative 2014 in Hamburg war er unser Gast. Partsch: Für mich ist es die erste Begegnung.
Herr Partsch, der Dalai Lama betont, es sei das Herz der Religionen, die Gemeinsamkeiten zu entdecken. Es scheint, dass wir da aktuell noch sehr am Anfang stehen?
Partsch: Ich glaube, dass es wesentlich darauf ankommt, in einer säkularen Welt unsere Werte, die Grundrechte, die Demokratie und die Freiheit zu erhalten. Gesellschaften, die sich religionsbasiert entwickelt haben, sind zumeist unterentwickelte Gesellschaften. Die Religion mag ein einigendes Band für einzelne Menschen, für einzelne Gruppen sein, nicht aber für ganze Gesellschaften oder Staaten. Ich sehe das eher so, dass die Religionen in der Grundtendenz, auch wenn sich Teile der christlichen Kirchen, Teile des Judentums und Teile des Islam durchaus anders orientieren, eine gesellschaftlich spaltende Rolle spielen. Gerade deswegen sind ja die versöhnenden Initiativen des Dalai Lama oder auch des Papstes so besonders, weil die Menschen merken, dass es offensichtlich auch anders geht - oder weil das vielleicht gerade das ist, worum es gehen sollte.
Wenn, wie der Tagesspiegel am 1. März über Gewaltexzesse in Myanmar schrieb, strenggläubige buddhistische Mönche „in ihrer Hetze dieselben Argumente benutzen wie deutsche Islamhasser”, bestärkt Sie das in Ihrer These?
Partsch: Ich bin selbst kein Kirchgänger, aber Katholik und ein religiöser Mensch, und ich bin offen für spirituelle Erfahrungen. Ja, ich glaube, dass es auf die Zivilgesellschaft und auf demokratisch verfasste Staaten ankommt, nicht auf die Religion.
Grader: Der Dalai Lama erklärt das so schön mit seinem Begriff der „säkularen Ethik”. Ethische Werte, wie z.B. Gerechtigkeit und Toleranz, sind das, was uns alle verbindet. Und er vergleicht Ethik und Religion mit Wasser und Tee. Die Ethik ist das Wasser. Und wenn man da Gewürze hinein gibt, Teebeutelchen oder in Tibet noch Salz, dann entsteht ein guter Tee. Das ist die Religion und je nach Gemisch entstehen verschiedene Religionen. Ohne Tee kann man leben, sagt der Dalai Lama, aber nicht ohne Wasser. Den Buddhismus bezeichnen viele nicht als Religion, sondern als Philosophie, doch wir müssen aufpassen, dass man das nicht zu sehr verklärt. Es gibt immer auch schwarze Seiten in den Religionen, auch bei den Buddhisten, wie das Beispiel Myanmar zeigt. Die Konflikte dort sind aber sehr komplex, man kann sie nicht auf die Religion reduzieren.
Herr Partsch, Darmstadt gehört zu den Städten, die jedes Jahr am 10. März die tibetische Flagge hissen. Was hat Darmstadt mit Tibet zu tun? Ist Ihnen das auch persönlich ein wichtiges Anliegen?
Partsch: Die Auseinandersetzung um die Unterdrückung von Menschen hat mich und meine Generation seit Ende der 70er Jahre bewegt. Wenn man nicht ideologieblind herangeht, ist klar, dass auch das Schicksal Tibets dazu gehört. Der Punkt ist der, dass Tibet im gesamtpolitischen Kontext am wenigsten Unterstützung hatte. Die Linken haben sich eher für El Salvador oder Nicaragua eingesetzt, die Rechten haben den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan thematisiert. Tibet war nie richtig im Fokus von Menschenrechtsarbeit. Auch heute ist es aufgrund der politischen und ökonomischen Wirkmacht Chinas so, dass Initiativen auf politischer Ebene zur Unterstützung der unterdrückten tibetischen Bevölkerung absolut marginal sind. Deswegen finde ich es richtig, wenn wir Kommunen, die sich in den Tibet-Initiativen zusammengeschlossen haben, das tun und zumindest daran erinnern, dass es diese Unterdrückung gibt. Denn ich glaube, das lehrt uns auch die Arbeit von Amnesty International, dass auch solche einzelnen, kleinen Initiativen Wirkung zeigen.
Herr Grader, die Tibet Initiative Deutschland ist ein Verein, der sich seit 1989 für das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter*innen und die Wahrung der Menschenrechte in Tibet einsetzt. Im Konflikt China-Tibet plädiert der Dalai Lama für einen „mittleren Weg“, also gegen die Unabhängigkeit, aber für eine weitreichende Autonomie aller historischen tibetischen Siedlungsgebiete. Die chinesische Regierung lehnt sogar das als „Eingriff in die territoriale Integrität“ ab. Welche Position hat die Tibet Initiative?
Grader: Das ist ganz einfach: Wir unterstützen die Position der Tibeter. Die große Mehrheit der Tibeter schließt sich dem mittleren Weg des Dalai Lama an. Im Herzen haben sie vielleicht alle die Unabhängigkeit, aber sie wissen, politisch ist das nicht realistisch. Das war ja der Grund, warum der Dalai Lama 1989 den Friedensnobelpreis bekommen hat, er hat das tibetische Volk auf den Weg gebracht hat, mit friedlichen Mitteln gewaltlos für ihre Rechte zu kämpfen und eine Autonomielösung für Tibet zu finden. Das ist der mittlere Weg. Das Problem ist: Der Dalai Lama kann noch so oft sagen, er wolle nicht die Unabhängigkeit, die Chinesen werden immer sagen, er sei der Abspalter, der große Feind Chinas. Einen besseren Verhandlungspartner als den Dalai Lama könnten die Chinesen aber gar nicht finden, denn er hat das tibetische Volk hinter sich. Deswegen verstehe ich nicht, dass China nicht seine offene Hand entgegen nimmt. Das wirtschaftlich starke China versteht einfach nicht, warum das tibetische Volk so „undankbar” ist, wo doch so viel investiert wird in Eisenbahn, Straßen, Flughäfen und so weiter. Das ist einerseits verständlich, andererseits profitieren die Tibeter nicht unbedingt davon und würden gerne, was die Entwicklung ihres Landes betrifft, mitreden und mitdiskutieren können. Nicht ohne Grund haben sich in den letzten Jahren über 150 Tibeter selbst verbrannt, um ihren Protest zu zeigen, ein Aufschrei: „Helft uns, wir kommen alleine nicht voran“.
Ist die Übermächtigkeit und Härte Chinas auch ein Grund für das hohe Ansehen der Tibet-Bewegung oder ist es doch eher die Gewaltlosigkeit? Es gibt ja Parallelen zu Kurdistan und Palästina, dort gibt es ganz andere „Lösungswege”.
Grader: Ja, Tibet bekommt tatsächlich auch so viel Unterstützung, weil es eine Alternative ist zu den Widerstandsbewegungen, die versuchen, mit Bomben und Terror zu ihrem Ziel zu kommen. Deswegen ja auch der Titel der Darmstädter Veranstaltung: „Gewaltlosigkeit ist der Weg“. Denn Bomben schaffen mehr Bomben, diese Entwicklung kann so nicht weiter gehen. Deswegen hat der Dalai Lama auch gesagt, der friedliche Weg Tibets sei ein Geschenk an die Welt, weil er zeigt, dass es eben auch diese Möglichkeit gibt.
Gewaltlosigkeit ist der Weg - der Königsweg oder gar der einzige Weg? Wie sehen Sie das, Herr Partsch, als Mitglied einer Partei, die 1999 der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg zustimmte? Wenn man noch das Zitat Heiner Geißlers zu Auschwitz aufgreift …
Partsch: „Der Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht“, womit Geißler natürlich das Münchener Abkommen meinte, die Appeasement-Politik und die völlige Unterschätzung des Nazi-Terrors. In den 80er Jahren fand ich das eine der furchtbarsten Aussagen, heute erkenne ich, dass sie einigen analytischen Wert hat. Also, es ist doch so, dass ohne das Eingreifen der Amerikaner der Zweite Weltkrieg sehr viel länger gedauert hätte. Und es ist die Frage, ob die Rote Armee stark genug gewesen wäre, alleine den Krieg gegen Nazi-Deutschland zu gewinnen. Gerade der Zweite Weltkrieg, und das sehe ich heute anders als noch als 18- oder 25-Jähriger, zeigt ja, was passiert, wenn Regimes willens sind, völkermordend gegen die eigene Bevölkerung oder andere Bevölkerungen vorzugehen, wie das auch in den jugoslawischen Nachfolgekriegen der Fall war. Die Konzeption der humanitären Intervention ist eine Reaktion darauf und bedeutet, dass eine kriegerische Intervention dann zu rechtfertigen ist, wenn ohne sie Zehntausende oder Hunderttausende ermordet würden. Nach Ansicht der Friedens- und Konfliktforscher gab es im Wesentlichen drei Völkermorde im 20. Jahrhundert: den an den Armeniern, den an den Juden und den an den Tutsi in Ruanda. Letzterer war Mitte der 90er Jahre und alle haben zugeschaut. Auch das war einer der Gründe, weshalb man 1999 gesagt hat, man muss das anders regeln, um solche Katastrophen zu verhindern. Wir müssen verantwortlich damit umgehen, das heißt, die Gewaltlosigkeit als Prinzip voranstellen, also Rüstungsexporte reduzieren oder verhindern und so weiter und so fort. Aber das heißt eben auch, wie im Fall Kosovo oder Bosnien und Herzegowina, militärisch zu intervenieren. Deshalb halte ich es, auch in der Rückschau, für richtig, dass sich damals die Bundesregierung an dem gelungenen Versuch, das Morden im Kosovo zu stoppen, beteiligt hat.
Grader: Der Mensch ist so, wie der Mensch ist: Einerseits möchte er glücklich und zufrieden und ohne Gewalt in Harmonie leben, andererseit gilt der Satz: „Der Mensch ist des Menschen Wolf“. Deswegen wird man sicher immer auch eine staatliche Gewalt wie die Polizei brauchen. Es gibt ein interessantes Buch mit dem Titel „Geschichte der Gewalt“. Der Autor weist nach, dass die Gewalt in den letzten Jahrtausenden zurückgegangen ist und viele Menschen nicht mehr an Gewalteinwirkung sterben, trotz aller Rückfälle, trotz der beiden Weltkriege und der Genozide im 20. Jahrhundert. Gewaltlosigkeit wird es nicht von heute auf morgen geben. Deswegen kann das Ziel nur sein, im Dialog, unter Aufrechterhaltung von Recht und Gesetz die Menschheit weiter zu entwickeln. Es gibt viele Punkte, die uns weitergebracht haben, die Deklaration der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg, die Abrüstung, daran sollten wir weiter arbeiten. Das ist auch dem Dalai Lama ein sehr wesentliches Anliegen, weswegen wir ja auch ICAN eingeladen haben. Und wir sollten nicht vergessen, es gab ja viele Umbruchbewegungen, die ohne Militär abgelaufen sind. Wie schon erwähnt in Polen, in Deutschland der Fall der Berliner Mauer, also es gibt Beispiele, wo es funktioniert. Darauf muss man setzen.
Herr Grader, welche neuen Erkenntnisse erwarten Sie sich von der Veranstaltung in Darmstadt?
Grader: Wir haben eine spannende Mischung auf dem Podium, und es war auch unser Wunsch, dass außer den Friedensnobelpreisträgern eine aktive Politikerin dabei ist. Mit Claudia Roth haben wir jemanden gefunden, der alle Kriegsherde dieser Welt kennt, sie war Menschenrechtsbeauftragte der deutschen Bundesregierung, ist also auch politisch stark involviert. Wir haben außerdem noch zwei Referenten: Sinisa Sikman, er kommt ursprünglich aus einer dieser jugoslawischen Bewegungen, die mit friedlichen Mitteln dazu beigetragen haben, dass das Regime dort gestürzt wurde, er wird in das Thema gewaltfreie Bewegungen einführen. Dhardon Sharling, die im tibetischen Außenministerium arbeitet, referiert über die aktuelle Lage in Tibet und den gewaltlosen Widerstand der Tibeter. Und ich freue mich ganz besonders auf den musikalischen Beitrag von Karim Wasfi, er kommt direkt aus Bagdad zu uns. Er wurde bekannt als Cellospieler von Bagdad, er hat in Bombentrichtern mit seinem Cello gespielt, er war Dirigent des Irakischen Nationalorchesters und er wird extra für diese Veranstaltung ein Lied komponieren. Wir wollten also bewusst keine Veranstaltung, wie es so viele gibt mit dem Dalai Lama, wenn er über Glück spricht.
Was soll also die Veranstaltung bewirken?
Grader: Von ihr soll eine Botschaft ausgehen, nämlich, dass es trotz der weltweiten Krisen noch friedliche Alternativen gibt, an die es sich zu glauben lohnt. Und, was uns auch ganz wichtig ist, wir wollen, dass das Thema Tibet wieder mehr in die Öffentlichkeit kommt und wir dafür noch mehr Unterstützer finden.
„Am Ende werden Frieden, Vernunft und Freiheit die Oberhand gewinnen”, sagt der Dalai Lama. Sind Sie auch so optimistisch? Und wie würden Sie „am Ende” definieren?
Partsch: Es ist ja fast schon eine hegelianische oder marxistische Vorstellung, dass sich Geschichte sozusagen auf eine Ende zu bewegt. Für mich bedeutet „am Ende” eine Tendenz, ein Prozess, der hinführt zur Vernunft, zu Freiheit und Demokratie. Ja, ich glaube, dass das so ist und dass es auch etwas bringt, sich dafür einzusetzen, auch wenn es im Moment so scheint, dass Irrationalismus, Gewalt und Ausgrenzung stärker werden. Ich glaube aber nicht, dass es ein Endstadium gibt, es wird immer ein Bemühen bleiben.
Grader: Es gab einen japanischen Historiker, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gesagt hat, das Ende der Geschichte sei erreicht. Er hat sich geirrt, denn Geschichte wird nie ein Ende haben. Man kann das noch ein bisschen platter ausdrücken: Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende.
Dann möchte ich Sie jetzt am Ende des Gesprächs um Ihr Lieblingszitat des Dalai Lama bitten.
Grader: Never give up!
Partsch: Ich hab „nur” ein Lieblingszitat von Immanuel Kant, das hätte vielleicht auch der Dalai Lama sagen können: Gerade in schwierigen Zeiten gibt es eine gewisse Pflicht zur Zuversicht.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Weitere Informationen:
Mi., 19.9., 9-12 Uhr, darmstadtium, Darmstadt Internationales Symposium „Gewaltlosigkeit ist der Weg“
dalailama-darmstadt.tibet-initiative.de
Weiter Informationen zum Konflikt China-Tibet: