Seit 1993 ist er der Leiter des Stadtarchivs im Haus der Geschichte am Karolinenplatz. Viele Darmstädter*innen kennen Engels nicht nur beruflich, sondern auch als Kirchenvorstand der Martin-Luther-Gemeinde oder als Gitarrist der Coverband „Line Seven“.
FRIZZmag: Einen Archivar hab ich mir immer ein bisschen verstaubt, angegraut und blutarm vorgestellt. Das sind Sie aber gar nicht. Warum nicht?
Peter Engels: Es gibt keine blutarmen, verstaubten, verknöcherten, in Kellern sitzenden Archivare, das ist ein unausrottbares Vorurteil. Archive gehören längst zum Dienstleistungssektor, wir sind zunehmend digital unterwegs, bei Anfragen wird häufig eine rasche Reaktion verlangt.
Würden Sie sich als rheinische Frohnatur bezeichnen?
Ja.
Immer noch, auch nach 25 Jahren in Darmstadt?
Ja, die Frohnatur ändert sich nicht. Außerdem ist Darmstadt auch relativ gesellig, ich habe Karneval einfach nahtlos durch Heinerfest ersetzt. Ich fahre, wenn Heinerfest ist, grundsätzlich niemals in den Urlaub, um das Fest immer komplett genießen zu können. Und mache jedes Jahr Thekendienst im Schlossgraben für den Förderverein Darmstädter Heiner. All das kommt einer rheinischen Frohnatur sehr entgegen.
Sie sind 1993 nach Darmstadt gekommen. Wer ist verantwortlich dafür und was war vorher in Ihrem Leben?
Das ist hier meine erste Stelle, das ist bei uns Archivaren sehr üblich, weil die Einarbeitungszeit in Kommunalarchive so umfassend ist und Jahre dauert, sodass man nicht gerne die Stelle wechselt. Die Stelle war ausgeschrieben, es gab acht Bewerberinnen und Bewerber und ich habe das Glück gehabt, die Stelle zu bekommen.
Sammelt ein Archivar eigentlich alles? Oder wie unterscheidet er sich von einem Messi?
Ein Archivar sammelt grundsätzlich alles, wählt aber dann aus. D.h., wir übernehmen nicht alles aus Aktenbeständen, Fotobeständen oder Plakatbeständen, wir prüfen auf den berühmt-berüchtigten bleibenden Wert. Wenn der erkannt wird, wird dauerhaft aufbewahrt, der Rest wird „kassiert“, so der archivische Fachbegriff, d. h. vernichtet. Das unterscheidet uns von einem Messi.
Nach welchen Kriterien wählen Sie? Gibt es da Standards? Und ist das nicht trotzdem manipulativ?
Die Gefahr des Manipulativen besteht grundsätzlich immer. Es gibt natürlich Standards und Leitfäden, aber es kommt immer die individuelle Entscheidung hinzu, die kann Ihnen auch niemand abnehmen. Sie werden also immer Gefahr laufen, dass Ihnen 30 Jahre später mal jemand sagt: Sie haben da etwas nicht übernommen, was Sie dringend hätten übernehmen müssen. Das sag ich übrigens auch über Leute, die vor 30 Jahren irgendetwas nicht übernommen haben. Aber wir sind alle Menschen, sind immer auch subjektiv und machen eben auch Fehler.
Aber wenn Sie etwas für nicht bewahrenswert halten, dann war’s das, oder?
Genau. Ich bzw. meine Kolleg*innen entscheiden, was bewahrenswert ist.
Was war denn aus Ihrer Sicht bewahrenswert in den letzten 25 Jahren?
Als ich hier ankam, habe ich z.B. kein einziges Stadtverordnetenprotokoll und kein einziges Magistratsprotokoll vorgefunden. Das habe ich dann sofort geändert, indem ich mir diese Protokolle besorgt habe. Ansonsten gab es einige Nachlässe, der wichtigste sicher der von Ludwig Meidner, den haben wir komplett übernommen und erschlossen und er wird auch sehr rege genutzt. Oder den Nachlass von Heinz-Winfried Sabais, der allerdings noch nicht erschlossen ist. Sabais war ja nicht nur OB, sondern auch zehn Jahre Präsident des Deutschen Bühnenvereins und hat eine reichhaltige Korrespondenz geführt mit dem gesamten „Who is Who“ der deutschen Theaterlandschaft.
Braucht man Entertainer-Qualitäten oder Märchenerzähler-Charme, wenn man Geschichte interessant verkaufen will?
Der ehemalige Leiter der Akademie für Tonkunst, Werner Hoppstock, hat mir einmal gesagt: Wenn bei einem Festvortrag nicht nach fünf Minuten der erste Lacher kommt, dann wird mir langweilig. Klar, wenn ich bei einer Fachtagung auftrete und etwas zur Darmstädter Geschichte sage, dann wollen die Leute anständige Informationen haben und keine Witze hören. Wenn ich aber einen Festvortrag halte vor einem Nicht-Fachpublikum, dann muss man ein wenig Entertainer-Qualitäten haben, und das gelingt mir, glaube ich, ganz gut. Märchen kann ich mir als Historiker nicht leisten, deshalb hat mich der frühere OB Benz mal als Legendenzerstörer bezeichnet, weil ich sehr gerne diese Märchenerzählungen entlarve. Matthias Claudius hat natürlich „Der Mond ist aufgegangen“ geschrieben, aber eben nicht in Darmstadt, das wird zwar gerne erzählt, stimmt aber nicht. Die Legende, Justus Liebig hätte die Apotheke in Heppenheim in Brand gesetzt und deshalb seine Lehrstelle verloren, ist ebenfalls frei erfunden, er hat die Lehrstelle verloren, weil sein Vater das Lehrgeld nicht bezahlt hat.
Warum sollte die Stadt das viele Geld, das sie fürs Stadtarchiv ausgibt, nicht besser in Schulen und Kitas investieren?
Erstens gibt sie relativ wenig Geld dafür aus, denn wir sind eine relativ kleine Dienststelle mit einem kleinen Etat. Und wenn ich größere Summen benötige, wie z.B. für das aktuelle Ausstellungsprojekt zur Brandnacht, muss ich Sondermittel beantragen oder Sponsorengelder einwerben. Zum Zweiten gibt es ein hessisches Archivgesetz, das die Kommunen verpflichtet, ein Archiv zu unterhalten, wir haben also quasi eine Bestandsgarantie.
Im Ranking der Bürger liegt das Weltkulturerbe Mathildenhöhe irgendwo um Platz 40. Das war vor gut 100 Jahren auch schon so ähnlich: Die Bürger gingen lieber nach Griesheim, Flugzeuge gucken.
Ja, das war so.
Was ist heute wie damals und was ist anders?
Die Mathildenhöhe war vor 100 Jahren eine propagierte Architektur- und Kunstform, die in die Stadt getragen wurde. Den Jugendstil haben die Darmstädter nicht gemocht, deshalb haben die Architekten der Mathildenhöhe auch keine Bauaufträge in Darmstadt bekommen. Der Wert der Mathildenhöhe hat sich aber stark gewandelt, sie ist heute ein wichtiger Faktor für die Außenwirkung der Stadt und für den Tourismus. Es mag sein, dass das für die eingesessene Darmstädter Bevölkerung nicht so interessant ist, aber die haben ja ihre Mathildenhöhe jeden Tag, da wird man vielleicht ein bisschen gleichgültiger.
Was von dem, was wir heute heiß diskutieren, ist in 50 Jahren noch wichtig?
Das ist ganz, ganz schwer vorauszusagen. Die protestierenden Schüler und Studenten vor 50 Jahren haben sich bestimmt auch nicht vorgestellt, einmal zum Gegenstand von Fachtagungen und Ausstellungen zu werden.
Vielleicht die „schepp Schachtel“?
Ich bin mir relativ sicher, dass das Darmstadtium, das bei seiner Errichtung ja sehr umstritten war, als Baudenkmal einen Ruf haben wird. Man wird es als Aufbruch in der Architektur des beginnenden 21. Jahrhunderts bezeichnen.
Und die kontroverse Diskussion darüber wird man im Stadtarchiv finden?
Ja, wir haben alles dokumentiert. Wir haben eine zeitgeschichtliche Sammlung, in der wir unabhängig von Aktenüberlieferungen alles à jour dokumentieren, mit einem Abstand von max. einem halben Jahr und gefühlt ein paar Millionen Zeitungsartikeln.
Und das sammeln Sie zunehmend digitalisiert?
Der Großteil unserer Unterlagen ist noch nicht digitalisiert, das ist eine kosten- und zeitaufwändige Aufgabe für die Zukunft. Wir übernehmen zunehmend digitale Unterlagen, etwa Zeitungsartikel; Fotos geben wir z.B. nur noch digital heraus. Unser digitales Leuchtturmprojekt ist unser Stadtlexikon, es war 2013 eine Entscheidung des Stadtarchivs, das gedruckte Lexikon digital zu betreiben, das wird auch reichlich genutzt. Ein weiteres Projekt ist jetzt ganz aktuell, das Lexikon mit dem digitalen Stadtatlas zu verbinden. Man klickt künftig im Atlas auf ein Gebäude und bekommt dazu den entsprechenden Artikel angezeigt.
Wie halten Sie Ordnung in Ihrem privaten Archiv? Was machen Sie z.B. mit Ihren Familien- und Kinderbildern?
Das macht meine Frau. Meine private Ablage hinkt drei Jahre hinterher.
Was macht ein Archivar in seiner Freizeit? Außer Kirchenvorstandsarbeit in der Martin-Luther-Gemeinde?
Ich laufe regelmäßig, sieben Frankfurt-Marathons und etwa 15 Halbmarathons bin ich schon gelaufen. Außerdem mache ich Musik, Gitarre, Percussion und Gesang, in der Coverband „Line Seven“.
Gibt es einen Lieblingsplatz in Darmstadt, vor dem Sie sich hätten fotografieren lassen, wenn wir Sie nicht zwischen die Akten gezwungen hätten?
Meinen absoluten Lieblingsplatz kennt kaum jemand. Das ist die Schutzhütte am großen Bruch zwischen Darmstadt und Roßdorf, dort laufe ich regelmäßig durch den Wald. Da bleib’ ich gerne stehen und guck mir diese schöne Wiese an, gerade in der Abenddämmerung ist das wunderschön.
Wenn Sie sich etwas wünschen könnten, was über Nacht in Darmstadt Realität würde, was wäre das?
Dass auf einen Schlag meine ganzen Verzeichnungsrückstände erschlossen wären und ich ein komplett erschlossenes Archiv hätte. Und damit noch viel besser die Stadtgeschichte erforschen könnte.
Vielen Dank für das Gespräch.
dr.peter.engels_vita
*15.6.1959, Haan (Rheinland), Abitur in Hilden, Studium Geschichte, Latein und Musikwissenschaft in Köln, 1991-1993 Referendariat am Staatsarchiv Münster und an der Archivschule in Marburg, seit 1993 Leiter des Stadtarchivs Darmstadt. Verheiratet, zwei erwachsene Töchter, wohnt im Woogsviertel und fühlt sich nach wie vor dem Martinsviertel verbunden.
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