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HLMD: „Into the Space Age!“
Die unmittelbare Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt von Trümmerfeldern, Inflation, Hungersnöten und der verzweifelten Suche nach einer neuen Identität. Mental desorientiert und materiell am Boden zerstört, findet sich das Nachkriegsdeutschland in der von den Siegermächten verordneten Demokratie ein und rollt die Ärmel hoch für den Wiederaufbau. Ohne Nachzudenken knüpft man an vergangene Strukturen an. Erst Ende der 1960er-Jahre wird die Ruhe im Land mit den Protesten der Außerparlamentarischen Opposition (APO) gestört und findet in den frühen 1970er-Jahren mit Erdölkrise, Alternativkulturen und der Antiatomkraftbewegung ein Ende. Ein Blick auf Darmstadt zeigt, dass die 1944 in der Brandnacht zerstörte Stadt extreme kreative Kräfte freisetzte. Aus den vielen Aktivitäten und dem Bedarf einer geistigen Neufindung spricht ein enormer Hunger nach kultureller Erneuerung. Darmstadt ebnet den Weg, die Mathildenhöhe erneut zu einem kulturellen Zentrum zu entwickeln. Otto Bartning, Architekt und Zweiter Vorsitzender des Deutschen Werkbunds, sorgte dafür, dass sich mehrere Organisationen neu gründeten und auf der Mathildenhöhe ansiedelten, unter anderem der Rat für Formgebung und das INTEF mit Sitz im Alfred-Messel-Haus. Bartning war Spiritus rector der Darmstädter Gespräche und leitete das zweite Darmstädter Gespräch „Mensch und Raum“ (1951) mit der begleitenden Ausstellung zu den Meisterbauten, zu den Entwürfen bekannter Architekten für die kriegszerstörte Stadt. Der Deutsche Werkbund zog in das zuvor vom Bauhaus-Archiv genutzte Ernst-Ludwig-Haus ein, ebenso fand die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (1951) dort ihr erstes Domizil. Die Akteure der Institutionen waren untereinander vorbildlich vernetzt und pflegten gute Beziehungen zum damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss, der die inspirierenden Darmstädter Projekte unterstützte. Zwei aktuelle Ausstellungen fokussieren auf denselben Zeitraum und verdienen besondere Aufmerksamkeit: das Hessische Landesmuseum Darmstadt (HLMD) mit der Ausstellung „Into the Space Age! Visionen & Design“ und das Institut für Neue Technische Form (INTEF) mit der Ausstellung „schön und gut - die Gute Form!“.
HLMD: „Into the Space Age!“
Visionen und Design der 1950er- und 1960er-Jahre
Das Wettrennen um die Eroberung des Weltraums beginnt 1957 mit dem Start des ersten Sputnik. 1958, nach Abwurf der ersten beiden Atombomben, wird bei der Brüsseler Weltausstellung das Atomium zum Symbol für den Glauben an eine neue, nahezu unerschöpfliche Energieform. Atom- und Weltraumzeitalter gehen nahtlos ineinander über. Das Weltraumfieber war entzündet. Ein optimistischer Glaube an eine grenzenlose Zukunftsentwicklung machte sich breit und erobert alle Bereiche des täglichen Lebens. Futuristische Architektur belebt die Baukultur, die Filmindustrie fasziniert mit Science-Fiction-Filmen und die Couturiers entwarfen die dazu passenden Mode-Kollektionen. Atomspielzeug zog in die Kinderzimmer ein und Atommodelle waren fast überall als Dekor zu sehen. Designer erfanden die Wohnwelt neu. Neue Formen, Farben und Materialien dominierten den Alltag. Ein Inferno an Plastikartikeln in schrillen Farben bis hin zum Wohnungsinterieur ist charakteristisch für eine besonders kreative Epoche des internationalen Designs. Den unverwechselbaren Ikonen des Atom- und Weltraumzeitalters und dem neuen Lebensgefühl ist die Ausstellung gewidmet. Die Phase endete in den frühen 1970er-Jahren mit der Erdölkrise, mit Alternativkulturen und der Antiatomkraftbewegung. Immer lauter werden die Mahnungen, auf welche Probleme die Nutzung der Atomenergie und die Auswirkungen der bunten Plastikwelt gesamtgesellschaftlich zusteuern. Das Landesmuseum bietet ein umfangreiches Rahmenprogramm vom „Space Talk“ mit dem Astronauten Thomas Reiter über thematisch korrespondierende Filmvorführungen im Darmstädter Programmkino REX, Führungen und Party sowie einem Nachmittag für Familien mit Führungen und Bastelaktionen. bis 7. Januar 2024 www.hlmd.de
INTEF: „schön und gut - die Gute Form“
Die Gute Form als Gestaltungsideal und Markenzeichen
Max Bill, erster Rektor der Hochschule für Gestaltung in Ulm (1954- 1957), konzipierte die Wanderausstellung »Die gute Form«. Sie war 1949 anlässlich der Mustermesse in Basel und danach u. a. auch in Darmstadt zu sehen. Die Schau trug wesentlich dazu bei, dass sich der Begriff „die Gute Form“ etablierte und international bekannt wurde. Auch die Hersteller erkannten rasch die wirtschaftliche Bedeutung moderner Formgebung und qualitativ hochwertiger Erzeugnisse. Mit Schaufensterausstellungen, Sonderschauen und Auszeichnungen sowie durch Publikationen und pädagogische Vermittlung wurde für formschöne, neuzeitliche und zugleich zeitlose Produkte geworben. Die Gute Form wurde zum Markenzeichen, das Funktionstüchtigkeit, Ergonomie, Technische Klugheit, sparsamen Materialverbrauch und Verarbeitungsqualität integriert. Das Wirtschaftswunder prägte die 1960er-Jahre in Deutschland. Die Produktion industrieller Güter erreichte einen Höhepunkt und führte zu einem nie dagewesenen Massenkonsum. Weiterhin galt die Gute Form für viele als Gestaltungsideal. Auf ein zum Ende des Jahrzehnts aufkommender Wunsch nach Freiheit, Veränderung und Dynamik reagierte das Design ebenfalls mit einer farbenfrohen Antwort des Experimentierens und der kreativen Entfaltung. Das Institut für Neue Technische Form, 1952 zum Zweck der Verbreitung der guten Industrieform gegründet, zeigt beispielhaft einen Querschnitt von Gegenständen aus zwei Jahrzehnten, die auch die sehr unterschiedlichen Interpretationen der formulierten Ansprüche an die Gute Form deutlich machen. bis 7. Januar 2024, Eröffnung am 8. Oktober um 12 Uhr, im INTEF am Friedensplatz www.intef.info