© Penguin Random House Verlagsgruppe
Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty
Das Streben nach einer perfekten Schönheit, die auch der Einband des Buches „Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty“ widerspiegelt, war Warhols vielleicht stärkster Schaffenstrieb. Der Künstler selbst klagte bis zum Schluss über seine zunehmenden körperlichen Beschwerden, jedoch nie öffentlich. Das widersprach dem Image, das der Spross bettelarmer Bauern aus den Karpaten der Außenwelt hinterlassen wollte: „Ich wollte immer eine Maschine sein“.
Darmstadt und Andy Warhol? Tatsächlich besuchte der Künstler zweimal die Stadt der Künste. Im Februar 1971, während einer Promotiontour für seinen Film „Trash“, ein weiteres Mal 1980 für ein Porträt der Textilunternehmerin Liselotte Fink. Wahrscheinlich dürfte den Sohn bettelarmer russischen Immigranten das seinerzeit umfangreichste Konvolut amerikanischer Popart in Europa an den Woog gelockt haben. Die Sammlung „Karl Ströher 1968“ war der globale Pilgerort der Avantgarde, nicht New York, London oder Paris. Sie umfasste in jenen Jahren auch über drei Dutzend Warhol-Werke, die im Hessischen Landesmuseum zu sehen waren. Eine gute Gelegenheit also für den Mann aus Pittsburgh, dem greisen Sammler und Wella-Konzern-Erben noch einmal persönlich zu begegnen.
Andrew Warhola, wie der studierte Gebrauchsgrafiker eigentlich hieß, kannte Deutschland früh aus dem Effeff. Nicht zuletzt seine freundschaftliche Verbundenheit zu Joseph Beuys führte den Spross einer bettelarmen Bauernfamilie häufig an Rhein, Ruhr und Donau. Wirkliche Gegenspieler waren Andy Warhol und Joseph Beuys beileibe nicht, aber sie vertraten konträre Ansichten über das, was Kunst sein und leisten sollte. Für den Anhänger von Warhol mögen die Bilder von Campbell-Suppendosen der Inbegriff eines fantastischen Werkes sein, ein Beuys-Fan wiederum erkennt in der Installation „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ einen Höhepunkt der jüngeren Kunstgeschichte.
Zwar lebten beide in beinahe derselben Zeitspanne und hatten manch ähnliche Marotten (Beuys trug einen Hut, Warhol seine weißblonden Perücken), in vielen Aspekten waren sie jedoch so gegensätzlicher Natur, dass es verwundert, wie häufig ihr Wirken paradoxerweise doch einander bedingte: Warhols scheinbar oberflächliche und bunte Pop-Art und die tiefsinnigen, oftmals schwer zugänglichen Arbeiten des niederrheinischen Anthroposophen. Beide nutzten sehr früh großräumige Ateliers, zentral gelegene Fabrikhallen als Experimentierfeld, arbeiteten zeitgleich an unterschiedlichsten Projekten und waren Taktgeber ihrer jeweiligen kreativen Szene - der eine in New York, der andere in Düsseldorf.
Die Alten Meister verschlagen Warhol in Darmstadt den Atem.
Wer weitere Berührungspunkte finden möchte, könnte natürlich das Hessische Landesmuseum in Darmstadt aufsuchen, wo beide Künstler nach wie vor mit Exponaten vertreten sind - oder das Antiquariat bemühen. Mit etwas Glück stößt man dort auf „Andy Warhol in Darmstadt“, einen schmalen Bildband, der den bis dahin eher dürftig ausgeleuchteten Deutschlandreisen des multimedial agierenden Sonderlings Raum gibt. In ihrem Text rekapituliert die Autorin und Dozentin Antje Voutta außerdem die komplexe Geschichte um die einst am Woog beheimatete Ströher-Sammlung mit ihren bis in die Gegenwart reichenden Kontroversen. Der Nibelungen-Trip von 1971, der Warhol und die Hauptakteure seines Films außerdem noch nach München, West-Berlin, Neuschwanstein und Linderhof führte, wurde von Leo Weisse dokumentiert, der Darmstädter Aufenthalt von Werner Kumpf.
In dem mittlerweile vergriffenen Flipbook waren über hundert bislang unveröffentlichte Fotos wie bei einer filmischen Sequenz geschnitten. Die fast intime Nähe der Kamera zeigt Wahrhol als intensiven und selbstvergessenen Beobachter, noch weit entfernt von der für ihn später so typischen Selbstinszenierung mit dunkler Sonnenbrille. Warhol öffnet uns den Blick durch genaues Hinschauen, durch Repetition, gipfelnd in seinem letzten großen Werk „Last Supper“, in dem er das raffinierte Beziehungsgeflecht in Leonardo da Vincis berühmten Abendmahl in einem Werkzyklus monumentalen Ausmaßes offenlegt. Über sechs Stunden dauerte sein Besuch im Darmstädter Museum. Die Galerie der Alten Meister soll ihn in Atem gehalten haben. So erzählte es Werner Kumpf, der von 1968 bis 1997 auch Hausfotograf der hessischen Einrichtung war.
Glaubt man dem Mann mit der Baskenmütze und dem Vollbart, soll die eigentliche Vorpremiere der kunsthistorisch wertvollen Lichtbilder bereits Jahre zuvor im Weißen Turm stattgefunden haben. Kumpf gründete als Ruheständler mit Gleichgesinnten einen Freundeskreis um das Wahrzeichen des ehemaligen Wehrturms, wurde dessen Vorsitzender und verwandelte das leerstehende Gemäuer in Darmstadts Mitte zu einer gedeihenden Foto-Galerie, in der auch Warhols Reiselust schnell ihren Platz fand. Noch kurz vor seinem Tod im Jahr 2021 erinnerte sich Kumpf, wie er die amerikanische Pop-Art-Ikone ein halbes Jahrhundert zuvor auf dem Weg durch die Museumsräume mit der Kamera begleitete. Warhol kam mit einem ganzen Tross an Mitarbeitern und Begleitern. „Er war unnahbar und doch irgendwie auch nicht. Er hat kaum gelächelt. Da war so ein Licht um ihn herum, einige würden es wohl Charisma nennen.“
Der Star mit der papiernen Haut zeigte sich sehr interessiert, ließ keinen Raum aus, betrachtete alle Werke eingehend. Lange habe er sich bei den Altartafeln aufgehalten, gänzlich in sich gekehrt, so Kumpf. Besonders angetan hatte es ihm ein Werk von Domenico Zampieri, einen Maler, der von 1581 bis 1641 lebte. „Das wollte er unbedingt haben. Der Preis war egal, er hatte ja Geld wie Heu. Er konnte gar nicht verstehen, warum er dieses Bild nicht kaufen konnte“, erinnerte sich der Fotograf, der nebenher Fotokurse in der Volkshochschule gab und ab 1974 die weit über Darmstadt hinaus bekannt gewordene Fotobörse organisierte, die erste ihrer Art in Deutschland. Nebenher sammelte er historische Fotoapparate, was wohl auch Warhol beindruckte, der mit dem geselligen Heiner ganze zwei Sätze gewechselt haben soll. „Er hat meine Kamera gelobt“, erzählte Kumpf 2009 der Frankfurter Rundschau.
Politische Hetzjagden auf Homosexuelle in der McCarthy-Ära. Auch Warhols Biografie ist von ihrer restriktiven Zeit geprägt.
Dass es nur wenige Fotos des gewitzten Darmstädters in die erste Liga der ikonischen Porträtaufnahmen geschafft haben, ist wohl dem Zeitgeist geschuldet. Oder einfach Künstlerpech. Mindestens einmal hat es Kumpf nicht geschafft, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Es gibt dieses tausendfach reproduzierte Foto von Andy Warhol im Frankfurter Städel, das den Dandy der Kunstwelt wohl bis in alle Ewigkeit an Deutschland und die Bankenmetropole ketten wird. In dem berühmten Museum lässt er sich vor Tischbeins Gemälde „Goethe in der römischen Campagna“ ablichten. Die Fotografin Barbara Klemm fängt den Popkünstler als gewöhnlichen Touristen ein - müder Blick, ein Rucksack auf dem Rücken, die Jacke sieht aus wie eine alberne Rüstung. Es ist das Jahr 1981. In Darmstadt wird gerade - nur wenige Kilometer vom Main entfernt - die Sammlung Ströher abgewickelt. Sie sei an jenem Tag schlecht vorbereitet gewesen, wird die weltbekannte Foto-Reporterin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung später süffisant erzählen, der introspektive Star sei ihr wie ein Gespenst vor die Linse gelaufen. Man mag es ihr kaum abnehmen, in Anbetracht von Klemms penibler Arbeitsweise, mit Diven wie Rainer Werner Fassbinder, Ingeborg Bachmann, Peter Handke oder Simone de Beauvoir stets „künstlerisch auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen.“ So reiste sie schon 1976 bei Wolf Biermanns berüchtigtem Kölner Konzert, das zur Ausbürgerung des Liedermachers aus der DDR führte, pünktlich an. Bei Klemm wirkte schon deshalb nichts gestellt, weil sie nichts dem Zufall überließ.
© Library Of Congress
Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty
Die 1962 gegründeten, „Factory“ genannten Ateliers, bildeten den Pool der kreativen Szene New Yorks. Stars wie Bob Dylan, Mick Jagger oder Jim Morrison fanden sich hier ein und Künstlerkollegen wie Salvador Dalí oder Marcel Duchamp. Die Aufnahme von 1968 zeigt Andy Warhol zusammen mit Tennessee Williams (re.) und Velvet Underground-Förderer Paul Morrissey (Bildmitte).
Andy Warhol ist für bunte Darstellungen von Suppendosen und Hollywoodstars bekannt. Als schrullig-skurrile Petitessen haben einige Skizzen und Plakatentwürfe überlebt, die er 1979 für den Grünen-Mitbegründer Beuys anlässlich der Neugründung seiner Partei entwarf. Die im Oktober zu Ende gegangene Berliner Ausstellung „Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty“ zeigte ebenfalls Werke, die unbekannt und kaum Mainstream waren. In der Glashalle des von Mies van der Rohe entworfenen Gebäudes baute sich ein Labyrinth von Stellwänden auf, davor Hinweisschilder, die unmissverständlich vor Nacktheit und Sexualität warnten. Was als vorauseilender Kommentar politischer Korrektheit im Schambereich der Besucher verfangen sollte, hätte sich Warhol als serielle Persiflage auf die Konsumgesellschaft kaum sinnhafter ausdenken können: „Geschäfte und Aufmerksamkeit sind die beste Kunst“ lautete seine Devise.
Auch Warhols Biografie ist von ihrer restriktiven Zeit geprägt. Die grafischen Frühwerke lassen davon jedoch nicht viel erahnen. Klaus Biesenbach, der Kurator der Berliner Schau, räumt den Fünfzigern als Herausgeber der begleitenden Publikation ebenfalls breiten Raum ein. Die Serie „Blotted Line Figures“ von 1953 beinhaltet zarte Umrisse von Menschen und Profilskizzen von sich küssenden Männern. Auf den Zeichnungen der kurz darauf stattfindenden Ausstellung „Studies for a Boys Book“ werden die Szenen schon expliziter, neben Zärtlichkeiten kommen auch sexuelle Handlungen und Nacktheit dazu. Ein Blick des unverhohlenen Begehrens auf den männlichen Körper, den der Betrachter durchaus nachempfinden kann. Und so wird das berühmteste Bild der Ausstellung, der „Double Elvis“ von 1963, zu einem bewaffneten Lustmotiv mit rauchendem Colt, der auch im opulenten Prestel-Bildband schärfer schießen darf als gedacht.
Hintern, Hoden und Genitalien - die Verehrung für junge Männer koloriert Warhol zumeist seriell nach.
Für die damalige Zeit war das Produzieren und Ausstellen solcher Szenen in den USA durchaus riskant. „Lavendelfarbener Schrecken“ wurde die politische Hetzjagd auf Homosexuelle in der McCarthy-Ära genannt. Sie bedeutete für viele das berufliche Aus, wenn nicht sogar lebensbedrohliche Gewalt. Doch ließ sich der Künstler zu keiner Zeit davon abschrecken, auch seine zahlreichen Polaroid-Selfies als Dragqueen sind aus heutiger Sicht unerschrocken selbstbewusst. Erfreulicherweise erliegt Biesenbach nur selten der Versuchung, dem Gefühl der Scham in den mehr als zweihundertfünfzig Werken ausführlicher nachzuspüren. Die psychischen Folgen unterdrückter Libertinage, die schwule Männer in einer heteronormativen Welt verinnerlichen müssen, erschließen sich ohnehin spätestens auf den zweiten Blick.
Viele Zeichnungen, Illustrationen, Fotos und Filme persönlich wichtiger Menschen in Warhols Umfeld, wie der junge Mick Jagger oder Jean-Michel Basquiat, zeigen seine Verehrung für sie. Der über dreihundert Seiten starke Pappband quillt über von Hintern, Hoden und Genitalien, im warholschen Stil nachkoloriert und zu seriellen Paaren sortiert. Diese Anhäufung macht beim Blättern Spaß, das Schamhafte wird durch seine Wiederholung zur Abstraktion. Und gleichzeitig wirken die Arbeiten politisch in einer Welt, in der Queerfeindlichkeit - gerade auch in muslimisch-religiös geprägten Gesellschaften - nicht selten nur eine absurde Fixierung auf Intimität beinhaltet.
Zeit seines Lebens bekannte sich Warhol nicht öffentlich zu seiner Homosexualität. Teilweise wurde gemutmaßt, er sei asexuell, was die Bilder der Serien „Torso“ und „Sex Parts“ aus den Siebzigern vehement zu widerlegen scheinen: Auf ihnen fokussiert sich Warhol auf primäre Geschlechtsmerkmale und Sexszenen, die er so nicht expliziter hätte darstellen können. Doch was hätte Warhol vom aktuellen LGBTQ-Getöse als Ausdruck vermeintlicher Akzeptanz gegenüber sexueller Diversität gehalten? Die Farben, mit denen heute zweifelhafte Unternehmen ihr Logo für ein besseres Image einfärben, waren jedenfalls nie seine: Der Regenbogen wäre ihm zu bunt geworden. Gerade weil sie nie modisch sein wollten, wirken seine Werke heute modern. Kunst, die keiner Deklaration bedarf, die aber unverblümt und wie nebenbei Zeugnis über queeres Alltagsleben und seiner Ästhetik ablegt.
Der introvertierte und scheue Warhol stand archetypisch und schimärenhaft für ein schwules Selbstverständnis, das nicht en détail postuliert werden musste. Das Streben nach einer eigenen Auffassung von perfekter Schönheit war sein vielleicht stärkster Schaffenstrieb. Wer weiß, vielleicht hätte er Darmstadt noch einen letzten Besuch abgestattet, wäre Buddy Beuys nicht im Januar 1986 verstorben. Warhol folgte ihm ein gutes Jahr darauf.
„Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty“ von Klaus Biesenbach (Hrsg.). Die englische Ausgabe mit Textbooklet in Deutsch ist als 304 Seiten starker Hardcover-Pappband im Verlag Prestel erschienen und kostet 49 Euro.
Weiterführende Infos zum Gesamtprogramm halten die Internetseiten der Penguin Random House Verlagsgruppe bereit.