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Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Wenn Ernst Stötzner (vorne) als Maykl das Licht der Welt erblickt, dann wird die Sturzgeburt in Hamburg natürlich als große Show durchexerziert.
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Manchmal fliegen nicht nur die Kleiderfetzen im wilden Tausch über die Rampe, sondern strahlen auch die schillernden Nebenfiguren effektvoll ins Parkett hinein. Sarah Franke (vorne) und Markus John geben Kostproben ihre Könnens.
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Sind die Darsteller erst einmal mit russischen Fellmützen und rosaroten Brillen ausgerüstet, wandelt sich diese Exilantenrevue schon mal zum pop-artigen Revolutionspathos. Später wird der gebürtige Darmstädter Henning Hartmann (li.) mit dem Alphorn zum Marsch blasen.
Dramaturgen scheinen an deutschsprachigen Subventionstheatern einer unterbeschäftigten Berufsgruppe anzugehören. Anstatt aktuelle, originäre Dramastoffe auf ihre Spielbarkeit hin abzuklopfen, bearbeiten sie lieber jene Erfolgsschmöker, die wir seit Jahren vorm Schlafengehen unters Kopfkissen stopfen. Jahrhundertroman trifft Sprechtheater, mit dieser Erfolgsformel versucht das Schauspiel seit Jahren geradezu zwanghaft ein neues, digital-affines Publikum im Sturm zu erobern. Die „Blechtrommel“ als Monolog in achtzig Minuten? Kein Problem, so lange dieser Oskar Matzerath uns eben die Erinnerung an den drögen Abi-Stoff wachhält. Ken Keseys „Einer flog übers Kuckucksnest“ sieht auf der Bühne gleich ganz so aus wie Milos Foremans Spielfilm aus den Achtzigern, ergänzt um ein paar Hippie-Reminiszenzen aus den Sechzigern, schließlich soll auch Woodstock zum fünfzigsten Jubiläum ein Bühnen-Comeback spendiert bekommen, jenes irre Musikfestival, das mittlerweile ins kollektive Gedächtnis der Friedensbewegten eingerieselt ist wie der Black Friday bei Schnäppchenjägern. Erkenntnisgewinne sind bei diesen Surrogaten der populär-gestrigen Schullektüre zwar kaum zu erwarten, dafür heftige Adrenalinschübe bei heutigen Theatergängern. Die dürften ihren Melville und Faulkner denn auch nicht wiedererkennen, wenn die Gewichtung des inneren Monologs zwischen zwei Theaterpausen auf riesigen Hubpodien verschaukelt wird. Oder die Klassikerinterpretation auf der Drehbühne um sich selbst kreist.
Wohin diese Raserei führt, kann man bei der „Deutschstunde“ sehen. Gerade hat die Landesbühne Esslingen Siegfried Lenzs Besinnungsaufsatz aus dem Jahre 1968 dramatisiert. Es geht um die Auseinandersetzung mit dem Wesen des deutschen Bürgers in der NS-Zeit, den der pflichtbesessene Vater der Hauptfigur Siggi verkörpert. Während Lenz seinem Protagonisten zwei deutlich unterscheidbare Stimmen gab und die Perspektive des Kindes neben die des reiferen Jugendlichen stellte, sieht man am Neckar eben nur, wie sich ein erwachsener Schauspieler an seiner kindlichen Figur und an der dominanten Mutter im Spielzimmer abarbeitet. Preußisch pflichtbewusste Spießer wird es wohl zu allen Zeiten gegeben haben, nationalistische Töne sind lauter denn je vernehmbar, und das liberale Künstlertum sieht sich eigentlich immer an allen möglichen politischen Fronten Angriffen ausgesetzt. Es ist das Mantra unzähliger, linksideologisch geprägter „Spiegel“-Leitartikel, das den szenischen Reigen solcher Aufführungen diktiert. Seltsamerweise bleiben die lehrbuchhaften Binsen auch hier deutlich hinter dem erzählerischen Tempo der Romanvorlage zurück - was im Falle des gemütlichen Lenz ja wiederum eine Kunst sein kann.
Nun also „Trutz“. In seinem deutsch-sowjetischen Jahrhundertpanorama ließ Christoph Hein gleich drei Romanfiguren durch Gewalteinwirkung ihr Leben verlieren: Zwei werden von Menschen erschlagen, einer durch einen entglittenen Baumstamm in einem sowjetischen Gulag im südlichen Ural. Es ist ein blutiger Opfergang von Idealisten, die vom nationalsozialistischen Regen in die Traufe der stalinistischen Säuberungen geraten. Hein statuiert dieses Exempel an dem vorpommerschen Bauernsohn Rainer Trutz, Maykls Vater. Dem aufgeweckten, aber mittellosen Neunzehnjährigen sind die Landarbeit und die enge Dorfatmosphäre verhasst, und so zieht es ihn in den Inflationsjahren nach Berlin. Heins schuf ein vielköpfig verwobenes Panoptikum, das ein Kleinbürgertum vor dem Hintergrund großer Weltenbrände auffächert. Das die Nazidiktatur, den Stalinismus und die DDR reflektiert und den begrenzten Blickwinkel, die jeweils besondere Geschichtsvergessenheit dreier Diktaturen Revue passieren lässt. Das riecht nach alptraumhaften Theaterbildern, die uns nach zweieinhalb Stunden Aufführungsdauer derangiert zur U-Bahn stolpern lassen, doch dann entsteigen wir den spätbarocken Plüschsesseln wie nach einem Wellnesstag im Spa.
Der Niederschlesier Hein hat seine stereotypen Kunstfiguren in echte Konflikte eingebunden, die Regisseur Parizek in Hamburg grell überschreibt.
Was das Staatstheater Hannover aus dem Roman - nur gut ein Jahr nach dessen Erscheinen - gemacht hat, wird auch bei der Übernahme der Produktion durch das Hamburger Schauspielhaus offensichtlich: Aus der gigantomanischen Gesamtschau hat Regisseur Dusan David Parizek die besten Filetstücke herausgeschnitten und das Essaywerk zu einem bunten Typendrama ohne größere historische Friktionen zusammengedengelt. Wie Ernst Stötzners Maykl das Licht der Welt erblickt, das wird gleich mehrfach als Sturzgeburt durchexerziert, bei der ausgerechnet der 67-jährige Mime fast nackt auf einer Seifenlaugenpiste zwischen den Beinen von Sarah Franke bis zur Rampe vorrutscht, was naturgemäß lautes Gelächter im Publikum auslöst. Später muss der Sohn eines vor den Nazis nach Moskau geflohenen deutschen Paares ohnehin jeder Psychologisierung trotzen, weil schon Hein an dieser Figur vorführt, welche Folgen ein allzu gutes Gedächtnis hat. Maykl ist von klein auf in der Gedächtniskunst geschult worden, wird sozusagen aus Schaden nicht klug, weil er immer wieder in Konflikte mit den Mächtigen gerät, deren Macht eben auf „Vergessen“, dem Verleugnen und Verklären ihrer Untaten basiert.
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Regisseur Dusan David Parizek findet am Deutschen Schauspielhaus beeindruckende Bilder zu Heins verstörendem Essaywerk.
Das Vergessen wird auch an der Alster belohnt, nicht das Gedächtnis. Nach diesem gleichnishaften Lebensmotto hat der Niederschlesier Hein seine etwas stereotype Kunstfigur in echte Dualismen eingebunden, die Parizek nochmals grell überschreibt. Wenn Sarah Franke etwa als russische Fluchthelferin Lilija Maykls Eltern beim Übertritt zuerst mit dicken Tschapka-Fellmützen und anschließend mit rosaroten Brillen ausrüstet, wandelt sich diese Exilantenrevue schon mal zum pop-artigen Revolutionspathos, wo der Zwischenapplaus so überschwänglich klingt wie bei Chruschtschows Duma-Reden in den Sechzigern. Wird Ivan Rebroff jetzt etwa als ewiger Klischee-Russe aus seinem Sarg steigen und uns einen Kasatschok tanzen? So schlimm kommt’s gottlob nicht. Und weil stattdessen Markus John als sowjetischer Politkommissar über Henning Hartmann als Vater Trutz zu Gericht sitzt, dabei von einem Holzquadrat auf den darunter an der Wand hockenden Hartmann herab geifert - lässt sich sogar fröstelnd die spätere Drangsal dieser Elendsfigur im Arbeitslager Workuta beklemmend vorausahnen.
Später wird der in Darmstadt geborene Hartmann, der im Jugendclub des hiesigen Staatstheaters reüssierte und einst von Peymann von den Münchner Kammerspielen ans Berliner Ensemble weggelobt wurde, bemerkenswert sinnfrei mit dem Alphorn zu einem musikalischen Potpourri blasen. Man mag die Folklorisierung des erlittenen Unrechts auf dieser Bühne instinktlos finden, aber man kann der Aufführung umgekehrt nie vorwerfen, sie wolle Literatur erklären - und damit verklären. Und wenn das herausragende vierköpfige Ensemble den rasanten Rollenwechsel mit sprachlicher Wandlungsfähigkeit verknüpft - Franke gibt noch eine sächselnde FDJ-lerin, Stötzner den grantelnden Genossen aus Österreich - dann fliegen nicht nur die Kleiderfetzen im wilden Tausch über die Rampe, sondern strahlen auch die schillernden Nebenfiguren effektvoll ins Parkett hinein. Nein, dieser Hein mag als Theaterdestillat eines großartigen Romans ziemlich entbehrlich erscheinen, er macht als Aperitif zum Buch aber mächtig Laune.
Die Inszenierung von "Trutz" läuft als Übernahme vom Schauspiel Hannover und als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen in Hamburg, wo das Stück seit Winter 2019 auf dem Spielplan des Deutschen Schauspielhauses steht. Weitere Infos und Tickets über das Gesamtprogramm der Spielzeit 2019/20 hält das Internet unter www.schauspielhaus.de bereit.
FRIZZmag blickt mit seiner Serie „THEATERcross-border“ in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.