© Thalia Theater Hamburg
Thalia Theater
Sturm im Wasserglas? Prospero lässt Ariel (Mirco Kreibich) jedenfalls nur kurz Schiffbruch spielen, damit die Sippe strandet zum Geschäft des Gegenschlags.
Mit Shakespeare war ich fertig. Sein „Sturm“ hatte meinen Rezensenten-Eifer für ihn einst hinweggefegt. Es war in einem dieser zauberhaften Schlossinnenhöfe in einer südwestdeutschen Fachwerkstadt, deren Namen ich nicht nennen möchte. Sommertheater, fünfunddreißig Grad. Ein Sonnensegel über der Tribüne. Darauf unzählige Best Ager, die nach Kölnisch Wasser rochen, und Legionen von Smartphone-bewaffneten Abi-Abschlussklassen, die gelangweilt aussahen. Die Bühne nahm der naturalistische Nachbau eines gestrandeten Segelschiffes ein, auf dem sich Menschen in Strumpfhosen beeindruckende Fechtduelle lieferten. Prosperos Groll auf die machthungrigen Verräter, die ihn hier einst entmachtet stranden ließen, sollte wohl als Comic-Strip fürs Bauerntheater verfangen. Der Höhepunkt dieser Fluch-der-Karibik-Oper bestand tatsächlich darin, dass sich eine Möwe vom nahe gelegen Fluss in die Aufführung verirrte und aus dem Sturzflug heraus auf die Bühne kackte, was die Schüler in den hinteren Reihen kurz amüsiert von ihren Handys aufblicken ließ. Es war, als wollte man Donald Trump mit den Mitteln eines Mantel-und-Degen-Films fürs komödiantische Versmaß des elisabethanischen Theaters gewinnen.
Dabei spielt Shakespeares Spätwerk mit seiner subtilen Doppelbödigkeit, die das boulevardeske Festspiel-Geschwurbel kaum anklingen lässt, bereits in der Textform mit den Visionen des politischen Kopfkinos: Prosperos Feme erschöpft sich ja nicht darin, dass er seine einstigen Widersacher nur wie gestrandete Sklaven piesackt und ihnen als verhexte Marionetten den Spiegel vorhält. Seine Rolle als sadistischer Racheengel verliert sich schon mit der Einsicht und der Erkenntnis, die er aus der Welt der Philosophie und der Wissenschaften schöpft: Der Mann der Bücher strebt nach Kontemplation, nicht nach Genugtuung. Längst ist er nicht mehr nur auf der Suche nach sich selbst oder nach einem Gatten für Töchterchen Miranda. Ausgerufen werden soll nicht weniger als eine neue Weltordnung. In Hamburg geht es daneben natürlich um finstere Diktatoren, den Brexit, Culture Clash und Klimawandel - die derzeit populärsten Treibladungen im deutschen Sprechtheater also.
Ein dröhnendes Rap-Musical, von allen Mythen des Sommertheaters befreit.
Jette Steckel ist eine begnadete Bilderstürmerin. Als Hausregisseurin stellte sie in der vergangenen Spielzeit mit „Das achte Leben“ eine atemberaubende Revue auf die Thalia-Bühne, die zwischen wuchtiger Polit-Opulenz und sprachlicher Kargheit schwebte. Was ihr in diesem Fünf-Stunden-Abend bei der Bebilderung des 1300-Seiten-Romans über die Familientragödie der georgischen Autorin Nino Haratischwili gelang, will sich auf der Shakespeare-Mittelstrecke nicht einstellen. Die Bilder verfangen nicht, weil Steckel den ideologischen Nährboden nicht bestellen mag für Polit-Dramolette unterschiedlicher Couleur, die Horst Seehofer wohl „Schmutzeleien“ nennen würde. So ist es ein dröhnend-postulierendes Rap-Musical geworden, sehr frei nach Motiven von Shakespeare, mit viel zirzensischem Budenzauber und ein wenig Friedrichstadt-Palast-Folklore. Wer aus diesem Wimmelbild noch wahlweise Silvio Berlusconi, Winston Churchill oder den türkischen Staatschef Erdogan heraustreten sehen will, braucht eine gesteigerte Vorstellungskraft: Bei den einen war es die Abkehr von der Bücherwissenschaft, die ihn zum umjubelten Volkshelden nach der Luftschlacht um England machte, für den anderen könnte es sehr bald das Ende der Zauberkunst sein, das ihn als vorbestraften Politgreis erneut in den Machtzirkel Italiens spült. Dagegen wirkt Prosperos Zaudern, der Geistes- und Hexenkraft zu entsagen, um auf den Thron von Mailand zurückzukehren, beinahe ehrpusselig und wie eine nihilistische Selbstkasteiung. Warum man die entsprechenden historischen Vergleiche an der Elbe nicht mitgedacht hat, um daraus wirklich großes Theater zu destillieren, bleibt ein Geheimnis der Regie.
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Das Foto täuscht, denn so versonnen wie hier gehen Prospero und seine Getreuen an diesem Abend nur selten ans Werk.
Immerhin, dieser Prospero wirkt von allen Mythen des Sommertheaters befreit. Stoisch fristet er sein Existenzialisten-Dasein in einem Zwischenreich, eingemauert zwischen Leben und Tod, Traumfresserei und Wachkoma. Die Heimat, seit er zusammen mit Tochter Miranda von seinem Bruder Antonio als Mailands König entsorgt wurde, ist zwar ein entlegenes Eiland. Sein Exil aber ist die geistige Beweglichkeit, durchdrungen von partieller Schwermut. Kontrastierend zu Prosperos gedanklichen Grenzübertritten hat Florian Lösche die Bühne in mehrstöckige Wohnwürfel fragmentiert, die an Bienenwaben oder Gummizellen erinnern. Wer in dieser normierten Konsum- und Arbeitswelt vorankommen will, schlägt sich fortlaufend den Kopf blutig und tritt noch auf der Stelle, wenn er die Richtung ändern will.
Prospero als zappelnder Zirkusdirektor inmitten urbaner Krisengewinnler.
Inmitten von urbanen Krisengewinnlern, ermatteten Stadtmenschen und lichtscheuen Schlafwandlern stellt die 75-jährige Barbara Nüsse hier den Geisterbeschwörer Prospero als eine Art lebenskluge Jukebox an die Rampe, ein zappelnder Zirkusdirektor mit Taktstöckchen, der vor den von ihm entfesselten Naturkräften wohl lieber davonlaufen würde. Bei Leonard Cohens deprimierenden Balladen erinnert er sich zwar an die Macht, die er über den Insulaner Caliban und den Luftgeist Ariel hat, aber die hypnotische Musik entfacht in ihm keinen Sturm des Willens mehr, nur ein laues Lüftchen, das das Chaos um die kranke Seele herunterkühlen soll. Bevor er stirbt, will er seine schöne Tochter auf die Welt vorbereiten, an die sie keine Erinnerung hat. Dafür gibt er wiederum den melancholisch-überdrehten Leader seiner „Band of Spirit“, um den Soundtrack für den Herbst seines Leben zu orchestrieren: Mit dem pochend-unangepassten Sprechgesang der britischen Rap-Nudel Kate Tempest hören wir ihn stammeln: „Europa ist im Taumel“. Als der verhasste Hofstaat vorbeisegelt, lässt Prospero Ariel kurz Schiffbruch spielen, damit die Sippe strandet zum Geschäft des Gegenschlags. Aber nach vierhundert Jahren braucht es dazu in Hamburg keine paranormalen Zauberkräfte mehr. Ein paar hochriskante Transaktionen an der Börse im Hip-Hop-Takt reichen aus, die alte Weltordnung nebst verkommenem Führungspersonal in den Orkus zu spülen.
Kein Wunder also, wenn André Szymanskis Caliban und Mirco Kreibichs Ariel bei ihrem alten Herrn nur noch Dienst nach Vorschrift schieben. Zu groß die Verlockung, sich den Finanzmärkten als neue Knechte in feinem Zwirn anzudienen. Das freie Spiel am Kapitalmarkt entbehrt jeder Logik, und als homoerotisch aufgeladene Broker verströmen die beiden keine Gefahr für Kapitalnehmer, dafür reichlich Angstschweiß und Klischees. Wo König Zufall regiert, gelingen der Aufführung unerwartet feine Ausflüge ins Improvisationstheater mit diversen offenen Spielebenen und absurdem Wortwitz. Die Protagonisten sind durch den Wind und haben sich mit ihren Lebensentwürfen verzockt - leider gönnt ihnen Steckel zu viele Pausen zum moralisierenden Atemholen. So richtig sturmreif schießen wollte sie den Klassiker dann doch nicht. Schade.
Der Sturm verströmt als Abgesang auf Europa nur ein laues Lüftchen.
Stattdessen muss man den Abend mit seinen dahingerotzten Tempest-Versatzstücken und todtraurigen Cohen-Poemen als allegorischen Abgesang auf das krisengeschüttelte Königreich in einem zerfallenden Europa ertragen. Wer die Lufthoheit über solche groß gedachten Assoziationsräume erlangen will, muss die Windmaschine freilich mit dem füttern, was der Mann aus Stratford-upon-Avon uns an geflügelten Worten nachgelassen hat. Doch ausgerechnet an der Shakespeare-Übersetzung ihres Vaters Frank-Patrick scheitert die talentierte Tochter, weil sie nur fragmentarisch-mehrsprachig daraus zitieren mag und lieber dem Pressetext der eigenen Inszenierung traut. In der Vorankündigung ist von einem „Stück voll hypnotischer Musik“ die Rede, von „Musik als Mitspieler, die den Puls der Gegenwart im Shakespeareschen Kosmos fühlbar macht“. Gefühlt haben wir nichts. Dafür ist der Ehrgeiz zu spüren, den traumhaft-verwobenen Handlungsebenen eine Plausibilität einzuhauchen, die unentwegt vom Kunstwillen eingefangen oder von der routiniert klackernden Bühnentechnik eingeebnet wird. Die „blinden Flecken des Bewusstseins“, wie es weiter im Presseheft heißt, sie bleiben dramaturgisch schwach ausgeleuchtet. Wäre die Aufführung eine Musik-CD, dann müsste man sie „überproduziert“ nennen.
Die Verkommenheit und die Verrohung der Gesellschaft finden auf der Musicalbühne einen markanten Sound, aber keine Sprache. Es sind Echoräume, die unentwegt mit starken Stimmen gefüllt werden. Dass sie so schnell verhallen, liegt daran, dass die Personen dahinter nicht zu verorten sind. Im Zentrum des Dramas klafft ein Loch, und als Romanze verströmt das Stück nur schwache Windböen. Jan Plewka, der Sänger der Rockband „Selig“, gibt seiner Liebe zu Miranda zumindest eine starke Stimme. Maja Schöne stolpert diese umsorgte Kindfrau als reizendes Dummchen und ungelenk tanzende Marilyn-Monroe-Parodie durch eine endzeitliche Kulissenwelt. Das funktioniert prächtig, weil schon Prosperos Tagtraum nicht mehr der Freiheit des menschlichen Willens folgt. Er lässt seine beschädigten Kopfgeburten in Zeiten von Fake News und medialer Desinformation lieber wie Schiffbrüchige in den Klamotten der Digital Natives in die alten Rollenmuster zurückfallen.
Der alte König selbst wird nach Überwindung von Tod und Trauma in die verlorene Heimat zurückfinden. Was ihn erwartet, dürfen wir uns nach diesen knapp zweieinhalb Stunden als Apokalypse denken. Die Vorstellung, dass ausgerechnet dieser tattrige Zausel den Wiederaufbau übernehmen müsste, ist nicht ohne Komik. Denn das Ende steht hier tatsächlich als Anfang einer düsteren Vision: Bei Shakespeare könnten womöglich demnächst Bots, also Computerprogramme, die auf keinen menschlichen Benutzer mehr angewiesen sind, die dramaturgische Interaktion besorgen. Es wäre sicher ein Theater ohne Protagonisten aus Fleisch und Blut, das sich seine Zuschauer erst noch programmieren müsste. Frau Steckel, übernehmen Sie!
FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.