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Kein Wunder, wenn Sarah Grunerts Solveig (unten) mit diesem Borderliner im Rollbett nicht tanzen will: Andreas Kriegenburgs Regie zeigt uns den sedierten Peer (Max Simonischek) häufig als Aufschneider vom Krankenlager aus.
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Junge Menschen kennen „Peer Gynt“ ja nur noch vom Smartphone: Edvard Griegs gleichnamige Suiten zu Hendrik Ibsens „dramatischen Gedicht“ von 1867 als Klingelton. So gehen Klassiker heute. In dieser Senke, irgendwo zwischen Trivialisierungs- und Optimierungswahn, versuchen Sprechtheater den Unterhaltungsanspruch neu auszuloten: Gefallen soll, was sich nicht allzu weit vom digitalen Zeitgeist entfernt. Die Selbsterfahrungstrips des rastlosen Peer Gynt liefern natürlich zeitlose Folien für die unstete Raserei nach sich selbst. Schließlich verlässt auch der moderne Mensch ständig sein Zuhause, um am Ende doch nicht bei sich anzukommen. Vor ein paar Jahren hat man in Pforzheim die Reise des alerten Weltenbummlers in achtzig Minuten runtergekurbelt. Im Hintergrund flackerten beeindruckende Bergvideo-Sequenzen aus dem „nordischen Faust“ über die Leinwand, davor berserkerte der Titelheld in ADHS-Manier und unter Zuhilfenahme all seiner Obsessionen in einer Schiffschaukel wie auf der Kirmes im Nachbarort. „Wir sind eine Arbeiterstadt“, hatte die Platzanweiserin noch unsentimental vorgewarnt, „alles über neunzig Minuten ist hier nicht vermittelbar“. Oje, wie sollen uns nur die Helden der Weltliteratur ihr Herz ausschütten, wenn sie im Theater zukünftig nur im Sprinttempo oder als fratzenhafte Karikaturen zur Sprache kommen?
Dabei galt das beseelte Spiel mit lebensechten, gleichwohl verfremdeten Puppen zu Beginn des Internet-Zeitalters fast als Synonym für eine neue Coolness an deutschen Schauspielhäusern - eben auch, weil man der antiken Form des Schattentheaters Zeit und Raum ließ, Imaginationsräume zu erobern. Die Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster ließen Suse Wächters metaphorische Trollpuppen-Armee in den Neunzigern am Schauspiel Frankfurt gleichberechtigt neben Theatergrößen wie Jenny Schily und Christian Nickel agieren, die sich in Ibsens verästeltem Schlüsselwerk augenblicklich mehrfach gespiegelt sahen und in mannigfacher Gestalt begegneten. Die Zuschauer ließen sich von Peers und Solveigs traumwandlerisch-figurativem Spiel forttreiben, schon weil das Korsett des Dramas unveränderlich geschnürt schien: Peer leidet an der Dysfunktionalität seiner Familie und der Enge der Heimat. Und klar, der Bub kompensiert die angeborene Psychose und die Angst vor seinen Gefühlen mit prahlerischem Auftreten und einer marktschreierischen Etikette, verloren aber ist er in seiner missratenen Charakterbildung. Die Flucht in exotische Gefilde schützt den Ausreißer zwar vor Solveigs ewiger Liebe, nicht aber vor Selbstbetrug und den eigenen Dämonen.
Max Simonischek gibt dem Borderliner Peer mit seinem starken physischen Spiel Halt - und so etwas wie eine innere Struktur.
Andreas Kriegenburg geht am Main noch einen Schritt weiter, er setzt den Irrsinn gleich ganz ins Zentrum seiner knapp fünfstündigen Neuinszenierung, die sich quasi vom Ende her dem Thema Schizophrenie nähert und zumeist auf eine lineare Erzählstruktur pfeift. Auch lässt der stark in Bildern denkende Regisseur die uralte Frage offen, ob oder ab wann er die Geschichte im Kopf des Hauptprotagonisten spielen lassen will, was schon deshalb ziemlich clever ist, weil selbstredend die Geisteskrankheit den größten Raum auf Harald B. Thors wechselseitig bespielter Hubbühne beansprucht. Es ist ein faszinierendes Agieren auf zwei horizontalen Ebenen. Oben sieht es so aus, als hätte sich Salvador Dali in Disneys „Dschungelbuch“ verlaufen, unten ist die Psychiatrie in grelles Weiß getaucht, ein irrer Mikrokosmos von Zitternden und Kranken, die sich für Ärzte halten, und mit einem Peer Gynt im Rollbett, den eifrige Schwestern mit Psychopharmaka ruhigzustellen versuchen. Wenn wir hier im fahlen Neonschein Peers wilden Geschichten lauschen, wie jener vom halsbrecherischen Ritt auf einem Renbock, dann klingen sie wie aberwitzige Episoden aus Ken Keseys Roman „Einer flog übers Kuckucksnest.“ Vertraut irre eben.
Max Simonischek gibt diesem Borderliner mit einem starken physischen Spiel dennoch Halt und so etwas wie eine innere Struktur. Erst zeigt er uns den sedierten Peer als Aufschneider vom Krankenlager aus, als er später im Nachthemd das Sterben seiner kalten Mutter Aase (Katharina Linder) begleitet, verstehen wir dann besser, warum Sarah Grunerts Solveig mit dieser Elendsgestalt nicht tanzen und sich ihr lieber im Arztkittel nähern mag. Das Warten auf die große Liebe wird hier eben nicht zu einem starken Drehmoment in einem hochallegorischen Stationendrama, sondern zur Stellschraube bei der Gewissensfrage, wie eine paranoide Gesellschaft in Zeiten von Turbokapitalismus und fortschreitender Entfremdung wieder zueinander finden kann. Bei Simonischek ist Peer weder ein Ratsuchender noch ein blinder Passagier im Travel-Modus, stattdessen wird dem Schlaks schonungslos früh bewusst, dass er als unbelehrbarer Lügenbaron ein ständiger Betreuungsfall bleiben wird. Da verhindert nur die Einsicht in die zerschossene Seele die endgültige Entgrenzung, auch kommen dem Suizidgefährdeten die Power-Reisen gegen die Depressionen nicht ungelegen.
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Schweinekopfträger inmitten eines Zauberwalds aus Baubohlen: In seiner verrutschten Metaphorik wirkt dieser „Peer Gynt“ tatsächlich so bizarr wie ein Auftragswerk der sizilianischen Mafia bei der Überschreibung eines Werkes von Marquis de Sade.
Die fröstelnd machenden Szenen aus der Anstalt werden umgekehrt aber auch zum Manko dieser wirkmächtigen zirzensischen Inszenierung. Dass sich aus dem Schlüsselthema der Bewusstseinsspaltung eben nicht unendlich viele überzeugende Bilder extrahieren lassen, wird im Mittelteil des Abends deutlich: Ist die Gemütspein des Weltenbummlers im Geiste erst einmal dramaturgisch kartographiert, wünscht man sich als Zuschauer eben auch, dass der Knopfgießer (Christoph Pütthoff) beim Umschmelzen von Peers fiebriger Psyche langsam Gas gibt und die Dorfgemeinschaft ablässt von der fortschreitenden Mythologisierung ihres abtrünnigen Mitbewohners. Der hatte einst die Ehe mit der reichen Gutstochter Ingrid (Paula Hans) verweigert, schon um der Mutter als Kuppelfee in die Parade zu fahren. Aase hatte wirklich nichts unversucht gelassen, um das prekäre Familienschicksal zu wenden. Der Alte säuft, der Hof verlottert, bei Ibsen gibt es stets genügend Gründe, zu tricksen oder eben davonzulaufen. Am Ende werden sie alle tot sein, und dass in Peers kaltem Herz von Anbeginn immer ein wenig Anbetung und Vergebung bei der Annäherung an diesen Topos Heimat gekokelt haben mag, das wollen wir als tröstende Wegzehrung gerne glauben. Eine Prise sozialpathologische Milde, auch um als gläubiger Theatergeher im Nachgang zu diesem alle Sinne raubenden Parforceritt nicht selbst verrückt zu werden.
Die Traumdeutung wirkt im halbdunklen Zauberwald ungleich länger nach als der Hirnspuk im kalten Licht der Klapse.
Die großen metaphorischen Panoramen gelingen Kriegenburg ohnehin auf dem Oberdeck des Frankfurter Guckkastens, in dem ein brillant aufgelegtes elfköpfiges Ensemble die fluktuierende Rollenzuordnung lustvoll annimmt, um Ibsens polyglotten Wanderzirkus im Stil eines surrealen Tanzspiels zu choreografieren. Die Verehrung für Peer durch die Wüstenmädchen unter der Sphinx? Ein schwitzender, orientalischer Bauchtanz mit rasselnden Baströcken und wilden Zischlauten. Dessen Kontrollverlust unter dem Bann der Trolle? Ein orgiastisches Treiben mit aufgesetzten Schweineköpfen und angebundenen Hexenschwänzen inmitten eines Zauberwaldes aus Baubrettern. Die dürfen später noch mal Peers Überleben sichern bei dessen Rückkehr im Sturm vor Norwegens Küste: Die ineinander verkeilten Holzbohlen versinnbildlichen den kenternden Kahn, dazu schlagen Schauspieler mit einer riesigen Plastikplane den Rhythmus des brausenden Wellengangs. Kriegenburgs illusionistisches Ballett wirkt in seiner verrutschten Doppelbödigkeit dann tatsächlich so bizarr wie ein Auftragswerk der sizilianischen Mafia bei der Überschreibung eines Werkes von Marquis de Sade.
Die Traumdeutung im Halbdunkeln wirkt dazu ungleich länger nach als der Hirnspuk im kalten Licht der Klapse, der deutlich auf den Geisteszustand des Autors anspielt. Ibsen schuf sein berühmtes Versdrama nach einer Schaffenskrise und in Zeiten großer finanzieller Not. Nachdem die Familie im „freiwilligen Exil“ kurz vorm Verhungern stand, soll der Mann aus Skien sogar mit Freitodgedanken gerungen haben. Max Simonischek ist also komplett bei Ibsen, wenn er dessen depressiven Wiedergänger nicht als Verdrängungskünstler und tolldreisten Schlawiner zeigt, sondern als geschundene Seele, die ihr Heil nur noch in großen Gesten und kleinen Erkenntnissen findet. Selbst wenn es am Ende nur die Erkenntnis sein mag, gegen diese alles verzehrende Krankheit einfach kein Gegengift gefunden zu haben.
„Peer Gynt“ steht als Wiederaufnahme ab 10. Januar 2020 auf dem Spielplan des Frankfurter Schauspiels. Die weiteren Vorstellungen sind für den 18. und 25.1. terminiert. Infos und Tickets über das Gesamtprogramm der Saison 2019/20 hält das Internet unter www.schauspielfrankfurt.de bereit.