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Thalia Theater
Nein, das ist nicht das Bühnen-Setting für eine neue Pink-Floyd-Tribute-Show. Hier steigt nur Jens Pohl (Mitte) als Schwerenöter Liliom dem ziemlich queeren Ablassgericht auf die Zinnen.
Wer sich in den Siebzigern und Achtzigern gerne auf Kirchweihen herumtrieb, der wird sich noch an die rostigen Blechschilder rund um die temporeichen Fahrgeschäfte und bonbonbunten Autodrome erinnern, auf denen die Schaustellern „junge Männer zum Mitreisen“ anzuwerben versuchten, abgerissene Gestalten mit ledriger Haut und osteuropäischem Zungenschlag, stets lässig eine Pobacke im Autoscooter, eine Selbstgedrehte im Mundwinkel und zwei Kilo Brisk-Gel in den Haaren. Den Archetyp dieses disruptiven Casanovas hat Ferenc Molnár bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in seinem „Liliom“ entworfen. Der Titelheld ist Ausrufer beim Karussell im Vergnügungspark, wo zwischen Zuckerwatte-Romantik und Bierdunst-Anzüglichkeit meist milieusicher, doch selten nüchtern geknutscht, gebumst und geprügelt wird. Hier unterhält Liliom sie alle, laut und rüde, mit butterigem Charme und borstiger Zotigkeit. Der Partisan für Freiheit und Liebe ist fürwahr ein Paradebeispiel fürs Soziologie-Seminar, nur will man so einem die Tochter für den Abend anvertrauen? Wo also diesen Freischärler im heutigen Theater verorten, in Zeiten politischer Korrektheit und entflammter MeToo-Debatten? Schließlich hat Liliom sehr früh die Hand gegen Julie erhoben, lange bevor deren bedingungslose Liebe ihn überforderte, auch scheint dessen Schuldbewusstsein schwach ausgeprägt. Und dass bloß die schiere Angst vor dem Versagen diesen Draufgänger und Weiberhelden in die Gewalt getrieben haben soll, das wäre eine allzu läppische Entschuldigung, die uns nicht einmal diese wunderbar freidrehende Inszenierung am Thalia Theater weiszumachen versucht.
Das Missverständnis, „Liliom“ sei nur ein poetisches, komisches Rührstück, nährte nicht mal der ungarische Autor selbst. Molnar soll seine Stücke am liebsten in überfüllten Cafés geschrieben haben, im Lärm der Stadt und ihrer Menschen, von denen viele am Ende der Donaumonarchie der sozialen Verrohung und Verarmung zutrieben. Lilioms fiebrige Verletzlichkeit ist bei Jörg Pohl gut aufgehoben, weil er sie stets hinter einer Brutalität verbergen muss, die die prekäre Zeit ihm aufbürdet. Maja Schöne ist eine moderne und selbstbewusste Julie, schon weil sie die Widersprüchlichkeiten der Emanzipation nicht bloß auf den Lippen trägt, sondern sich auf die Schultern packt. Wenn sie mit Liliom schmutzigen Sex auf der Parkbank hat, kann sie den erst richtig genießen, als sie dessen Gewalt gegen sich in Kauf nimmt - und wohl auch dem Kind im Manne verzeiht. Es ist ja ein herausfordernder Drahtseilakt, weil die sexuelle Befreiung hier auch aus dem Verständnis für diesen groben Klotz erwächst. Im Himmel, in dem dieser hartzarte Zausel Abbitte leisten muss, sind hingegen alle pflichtschuldig divers und gegen das repressive Patriarchat. Dass der latent gewaltbereite Taschenspieler Liliom im queeren Fegefeuer seine irdischen Taten nicht heuchlerisch bereuen mag, kann man ihm nicht übelnehmen. Und war es nicht Frau Muskat (Oda Thormayer) selbst, die dem Schicksals-Kreisel erst jenen fatalen Drall gab, indem sie Liliom als seine Chefin und Liebhaberin einfach rauswarf, nur weil der Stenz seiner Julie eben heftiger an die Wäsche wollte als ihr?
Zu Sex und Gewalt kommen Techno und Tschaikowsky als Soundtrack hinzu.
Regisseur Kornél Mundruczó hat das einst weinselige Gesellschaftspanorama vom Wiener Prater in die feministische Gegenwart hinübergerettet und es von jener walzerhaften Firniss befreit. Es ist nicht mehr nur ein rührendes Fiaker-Melodram über einen Mann, der seine schwangere Frau schlägt, sondern auch ein Stück, das seine Nähe zum antiken Drama ernst nimmt. Liliom bekommt von Gott ja seine zweite Chance, nachdem der geplante Raubüberfall auf einen reichen Juden schiefgeht und er sich das Leben nimmt. Wenn zwischen Himmel und Erde geliebt und gelitten wird, wirken die Live-Projektionen am intensivsten, die die ganze Beengtheit und Armseligkeit des Milieus um 1900 aus dem Inneren enger Bretterverschläge heraus transportieren. Sie stehen dabei nur scheinbar im Widerspruch zum mechanisch-getakteten Aktionismus, den die mächtigen Greifarme zweier Industrieroboter verbreiten. Die bauen an der Alster ganze Kulissenlandschaften um, räumen den Weg für das nächste Bild frei und finden ganz nebenbei noch die Zeit, untertänig eine glühende Attrappe des Mondes zur romantischen Liebelei im Park hochzuhalten. Es ist ein schöner Regie-Gag unter vielen anderen, der gekonnt die Sprengkraft der alten post-industriellen Revolution mit der gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit in Zeiten des heutigen digitalen Wandels verschneidet. Und wenn sich am Ende die stählernen Diener vor dem Publikum verbeugen und wir ihnen applaudieren, halten wir doch erschrocken inne, weil uns die Huldigung dieser neuen Götter dann doch unheimlich wird.
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Maja Schöne (li.) ist eine moderne und selbstbewusste Julie, schon weil sie die Widersprüchlichkeiten der Emanzipation nicht auf den Lippen trägt, sondern sich auf die Schultern packt.
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Wenn Mutter und Tochter vor dieser Käseglocke gleich das Seil schwingen, wird Liliom ihnen doch noch übers Stöckchen springen. Die Domestizierung des Prügelknaben bildet aber nur schwach die Absicht von Kornél Mundruczós Inszenierung ab.
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Mundruczó gibt als Spielleiter zwar keine Antworten auf die Fragen, wie wir unser Leben ändern können, was uns zum Menschen macht oder wie es sich in Würde und Anstand leben lässt, aber er kennt alle inszenatorischen Tricks, um das dramaturgische Vakuum dieser schwärmerischen Fabel gleichnishaft als Kopfkino zu Ende zu denken. Immerhin hat der Mann aus Gödöllö einen Namen als bildstarker Wüterich zu verlieren. Sex, Gewaltorgien, schwüle Ballett-Einlagen und gute Laune prägen sein Theater, diesmal kommen sanfte Techno-Beats und Tschaikowsky als Soundtrack hinzu. Dazu wird Lilioms Schicksal angemessen surreal vor der Kulisse des Eisernen Vorhangs verhandelt, wo sich das Tribunal abgekämpft den Argumenten anschließen wird, die so ähnlich auch die Hauptankläger gegen Harvey Weinstein vorgebracht haben dürften. In solchen Szenen wünschten wir uns, die Akteure hätten sich weniger als Maschinenwesen an der Klischee-Front für die Einhaltung von Bürgerrechten abgerackert, sondern früher den poetischen Nukleus des Elendsdramas zugewandt.
Liliom ist die Kröte, die eine genderneutrale Gesellschaft schlucken muss.
Dieses wie fremdgesteuert wirkende Ringelspiel nimmt als Achterbahnfahrt für die Sinne mächtig Fahrt auf, aber die darin verwobene Tragödie wird als straff getaktete Versuchsanordnung eben auch selten auserzählt. Und in Anbetracht der Tatsache, dass sich an diesem zweistündigen, in der Rückschau erzählten Abend eben meist nur ein ungehobelter Tunichtgut permanent selbst im Weg steht und sich ins gesellschaftliche Abseits kegelt, wirken die zahlreichen politischen Anspielungen und moralischen Codierungen selbst in der Draufschau auf den heutigen Sexismus-Diskurs immer ein wenig angestrengt und überambitioniert. Da ist man schon dankbar, wenn sich vor diesem ansonsten höchst unterhaltsamen Plädoyer gegen kooperative Zurichtungen doch noch das subtil-private Charakterstück abzeichnet und der scheinbare Nonkonformist Liliom über das Stöckchen springt, das ihm Julie und ihre geistig behinderte Tochter (alternierend Mila Zoe Meier und Paula Stolze) hinhalten: Beide schwingen ein Seil, über das ihr Geck lustvoll und für eine halbe Ewigkeit lang hüpfen muss. Ein herzzerreißender Schlusspunkt, der die erkenntnisstiftende Fallhöhe dieser Koproduktion mit den Salzburger Festspielen stimmig konterkariert, wonach Liliom selbstverständlich die Kröte ist, die eine Gesellschaft schlucken muss, wenn sie nicht an ihrer geschwurbelten Achtsamkeits-Rhetorik und vorrauseilenden Genderneutralität ersticken will. Ein hässliches wie heilsames Korrektiv in einer Welt, in der die Menschen ohnehin nicht mehr Herr ihrer Gefühle sind.
Das Stück "Liliom" steht seit Herbst 2019 auf dem Spielplan des Hamburger Thalia Theaters. Weitere Infos und Tickets über das Gesamtprogramm der Spielzeit 2019/20 hält das Internet unter www.thalia-theater.de bereit.
FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.