Das Stück "Der goldene Drache" erzählt eine der traurigsten Geschichten überhaupt. Sie handelt von einem jungen Chinesen. Der ist ohne Papiere in den Westen gelangt auf der Suche nach seiner Schwester. Er bekommt schlimme Zahnschmerzen. Die Köche in der winzigen Küche des "Goldenen Drachen", eines Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurants, operieren den faulen Schneidezahn mit einer Rohrzange heraus. Der Zahn fliegt durch die Luft in den Wok und landet von dort in der Suppenschale einer Stewardess im Restaurant.
Natürlich überlebt der junge Mann die OP nicht. Er verblutet, und seine Leiche wird heimlich in den Fluss geworfen. Der trägt sie ins Meer, die Strömung spült das Skelett an die Küste Chinas.
Roland Schimmelpfennigs Drama ist eine Leidensgeschichte, eine Passion, in der das ganze Elend prekärer Lebensverhältnisse von Migranten aufscheint. Mittels eines kleinen kariösen Zahns den großen Kummer dazustellen, die Qualen und die Kälte des Menschen, das gelingt dem Dramatiker Schimmelpfennig (Foto) auf beeindruckende Weise. Vom Kleinen zum Großen. Und wieder zurück.
Die verwirrenden, oft abrupt abbrechenden und absichtsvoll verschränkten Handlungsstränge erhalten ihren Sinn durch die eingeflochtene Fabel von der Ameise und der Grille, die von dem antiken Dichter Äsop als Lehrbeispiel für das Prinzip schlauer Vorsorge und gegen das Laster kurzsichtigen Genusses entworfen wurde. Schimmelpfennig dreht diese Botschaft um, macht aus der „klugen“ Ameise eine kalte Ausbeuterin und aus der Grille ihr gequältes Opfer.
So virtuos dieses Prinzip der ständigen Aufhebung im Drama angelegt ist, so souverän und wirkungsbewusst hat es die Regisseurin Caroline Stolz in ihrer Pforzheimer Inszenierung umgesetzt. Im süffigen China-Dekor mit roten Hängeampeln und mit raffiniert variablen Kostümen läuft die achtzig Minuten kurze, sehr präzise arrangierte Aufführung mit faszinierender Spannung und temporeicher Vitalität ab.
Gelungen ist dieses Gemeinschaftskunstwerk aus Wort, Ton und Szene durchaus - und doch bleibt ein Unbehagen. Denn das Menschenbild, das hier gezeigt wird, wirkt zuweilen recht eindimensional. Im "Goldenen Drachen" sind alle ausschließlich böse, bis auf das Opfer, das nur Opfer ist. Mit Schockbildern lässt sich eben gut unterhalten. Dem paradoxen Wesen des Menschen mit seinen zerstörerischen und schöpferischen Fähigkeiten nähert sich das Pforzheimer Theater erfreulicherweise aber immer dann an, wenn es Schimmelpfennigs Empörungspopulismus negiert. Man könnte auch sagen: Dem Elendsporno mit heiterem Selbsterhaltungswillen den Kampf ansagt.