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Selbstoptimierung mit Farbeimer-Duschen: Die Crew des Berliner Ensemble auf ihrem Narrenschiff.
Er sei „Charmeur und Liebhaber einer Welt, die getäuscht werden will“, schrieb Thomas Mann einst in seinen Notizen über „Felix Krull“. Da die Welt ihrerseits nur Blendwerk sei und getäuscht werden will, liefe das Ganze auf eine wechselseitige Illuminierung hinaus. Der Lübecker Spross einer Kaufmannsfamilie hatte die Lebensgeschichte des Sohns eines bankrotten Schaumweinproduzenten in Form einer fiktiven Autobiografie bereits um 1905 vorskizziert: Ein Selbstdarsteller, den Nietzsche bereits als „Wirkungskünstler“ beschrieb, geboren aus dem kindlichen Trieb zur Nachahmung, der nicht aus der Fülle seiner Möglichkeiten etwas Originäres schöpft, sondern Substanz vortäuscht. Als Gaukler treibt auch Krull nicht die geschlossene Vision, sondern die Imitation des Vielfältigen zu Höchstleistungen. Verführungswillig wie er selbst ist auch sein Publikum, süchtig danach, sich zu spiegeln in dem schönen Schein des divenhaften Taschenspielers, der in der gefakten Fingerfertigkeit nur kurzfristig Erlösung vor Erdenschwere findet. Dass die Vortäuschung von Begabung mitunter genauso viel schöpferische Fähigkeit erfordert wie die Begabung selbst, das lässt sich jetzt hinter dem parodistischen Comedy-Feuerwerk erahnen, das die Spielleute am Schiffbauerdamm abfackeln. Man kann das großartig albern finden. Oder hochgradig peinlich. Es ist in jedem Fall der nachvollziehbare Versuch einer unpathetischen Verbeugung vor der wohl ersten coolen Socke der deutschen Weltliteratur.
Ließ sich Mann anfangs beim Schreiben noch von spöttischen Seitenhieben auf seine Vorbilder Goethe und Wagner leiten, geriet ihm die Wiederaufnahme des Projekts über vier Jahrzehnte später zum schwülstigen Traktat, angesiedelt irgendwo zwischen Psychoanalyse und der Hyper-Stilisierung seiner Hauptfigur zu einem antiken Hermes, dem griechischen Gott aller Betrüger. Der Roman selbst wird fragmentarisch bleiben. Am Berliner Ensemble pfeift Regisseur Alexander Eisenach gleich ganz auf das Spannungsfeld aus Esoterik, Geistes-Artistik und Moral. „Nach Thomas Mann“ heißt es deshalb etwas verdruckst im Programmheft über diese „Stunde der Hochstapler“. Immerhin tritt Goethes Faust tatsächlich auf, nicht als vergeistigter Sinnsucher nach den letzten Fragen von Liebe und Erlösung, sondern in Zitat-Form. Nein, dieser „Felix Krull“ bleibt nur vordergründig ein anspielungsmächtiges Hochamt für Hochstapler, er feiert die scheinhafte Existenzform von fluiden Künstlerseelen in erster Linie als rauschhafte Narretei unter der Varietékuppel ab.
Bei Alexander Eisenach steht das Personal mit beiden Beinen auf dem Jahrmarkt der Selbstinszenierung.
Das ist natürlich kein Theater wie es bei Thomas Mann um Buche steht. Dieser Krull hat die papierne Roman-Existenz hinter sich gelassen und macht den schönen Schein zu seiner Bühne. Die hat Eisennach über die ersten Parkettreihen hinweg noch ein Stück in den Theaterraum hineingezogen, was dieser ohnehin kuscheligen Theater-im-Theater-Konstellation nur weitere zirzensische Authentizität verleiht. Das abstrahierte Setting ermöglicht es zudem, konkrete Orte und Personen der ohnehin handlungsarmen Geschichte fast ganz wegzulassen, was zur Folge hat, dass sich die Situationen wie das Vorstellungsgespräch beim Hoteldirektor oder die Musterungsszene kaum chronologisch zuordnen lassen. Kein Makel, vermittelt das frei flottierende Personal überdies permanent den Eindruck, unter Strom zu stehen und nur der inneren Eingebung zu gehorchen. Improvisationswut und pures Menschsein als Persönlichkeitsstörung. Thomas Mann hätte in sich hineingeschmunzelt.
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Zwischen Dekadenz und Realitätsverweigerung: Constanze Becker als Diane Philibert und Marc Oliver Schulze als Felix Krull.
Wenn Marc Oliver Schulze als Felix Krull gleich zu Beginn virtuos Luftgeige zum Playback spielt, dann ist es genau das, was Oliver Rentzsch als geld- und vergnügungssüchtiger Impresario von ihm erwartet. Die illusionäre Existenzform einer Helden-Darstellerin scheint auch Sina Martens in sich zu tragen, wenn sie gegen sich alleine Squash spielt: Ein Narziss, die die Welt im Wort hat und damit im schönen Schein, und nun vergeblich darauf wartet, dass einer die Bälle, die sie ins Publikum drischt, zu ihr zurückspielt. Als ausgerechnet der Gernegroß Krull sie auf die fehlende vierte Wand hinweist, ist auch das Funktionsgeheimnis dieser knapp eineinhalb Stunden dekodiert: Die Durchdringung des Selbstbetrugs ist möglich - nur eben jeweils beim anderen. Dass das Personal beim Existenzialisten-Memory immer auch sprachbildhaft mit der ideologisch verbrämten Selbstreferenz der Brecht-Bühne spielt und die Troll-Armeen des Internets dabei subtil ins Running-Gag-Räderwerk greifen, lässt die Fieberkurve dieser Nummernrevue freilich nicht endlos ansteigen. Das sei eben „ein klarer Fall von Influencer“, wie bei Gelegenheit kaulauernd wie zutreffend diagnostiziert wird. Logisch, irgendwann hat diese Scherzkeks-Parade eben auch den eigenen Witz verfrühstückt.
Ausgerechnet der bekannteste Narzisst fällt in diesem Theater durchs Raster.
Tempo aber bleibt der Treibsatz des Abends, und wenn sich Schulze und Constanze Becker als dessen Salon-Liebschaft Diane Philibert völlig unvermittelt miteinander prügeln, dann feiert auch die ferne Pubertät fröhliche Urstände: Die deftige Wirtshausschlägerei untermalt die Tonregie mit martialischen Fausthieb-Klangcollagen wie aus den besten Zeiten des Spaghetti-Westerns. Becker, eine eher markante Schönheit, wurde einst in der Rolle als konsequent-reduzierte Medea am Frankfurter Schauspiel zum Publikumsliebling. Vor zwei Spielzeiten wechselte sie zusammen mit ihrem Intendanten Oliver Reese vom Main an die Spree und darf nun zeigen, dass sie auch komisch und verrucht sein kann. Das geht so weit, dass man sich manchmal verwundert die Augen reibt und sich fragt, warum man diesem flott nach vorne drängenden Ulk überhaupt das Label der Hochliteratur anpappen musste. Immerhin bestärkt es das Publikum bis zum Ende in seinem Wunsch, der Mann’sche Wertekanon möge nie abgeschlossen sein, irgendwo auf dieser schiefen Pointen-Rampe müsse es eine geheime Falltüre geben, die hinabführt zu jenem mystischen Kraftzentrum, das diese gut geölte Spaß-Maschine antreibt. Pustekuchen. Denn wohin man auch schaut: Erfreulicherweise mal keine Trump-Perücken und Gauland-Krawatten, diese ganze Requisiten-Grütze, die gewöhnlich die jungen Castorf-Epigonen anrühren, um düstere Allegorien auf den jeweils hippsten Despoten auszukippen.
Der bekannteste von ihnen fällt hier schon durchs Raster. Nicht weil es ihm an prahlhanserischen Fähigkeiten mangelt, sondern weil der Ich-Darsteller im Weißen Haus als Geschäftsmann durchaus Erfolge vorweisen kann, die nicht ausschließlich auf einer gepimpte Erwerbsbiografie beruhen. Und Boris Johnson, der britische Counterpart auf der anderen Seite des Atlantiks? Kurz glauben wir ihn wiederzuerkennen im fratzenhaften Clownskopf, den Daniel Wollenzin (Bühne) wirkmächtig über der Szenerie glimmen lässt. Aber es ist nur Pennywise, Stephen Kings bleicher Totmacher aus „Es“. Der speiste seine Mordsenergie einst aus der Furcht der Menschen und ihrer Ignoranz. Jenen, die jetzt hier ihre letzte Reise in einer als Narren- und Totenschiff umfunktionierten Badewanne angetreten haben, wird er kaum etwas anhaben können, denn die feiern ihre Selbstoptimierung mit narkotischen Duschen aus Farbeimern im Stil einer dekadenten Palastrevue der Goldenen Zwanziger. Wo die Persönlichkeitsstörung zur Party wird, muss am Ende eben die Windmaschine für gruselige Tiefenwirkung sorgen, wenn eisiger Bühnennebel in den Rängen wabert. Die Vergnügungssüchtigen hat es im Spätherbst der Weimarer Republik also kalt erwischt. Wir selbst müssen uns bei diesem Theater aber alles andere als warm anziehen.
„Felix Krull“ steht seit Beginn der Spielzeit 2019/20 auf dem Spielplan des Berliner Ensembles. Die nächsten Vorstellungen sind bis 31. Oktober terminiert. Weitere Infos und Tickets über das Gesamtprogramm hält das Internet unter www.berliner-ensemble.de bereit.
FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.