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Professorin Dr. Nicola Erny lehrt Philosophie an der Hochschule Darmstadt und ist Dekanin des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften. Sie glaubt, die neue Zurückhaltung durch Corona werde nicht von Dauer sein, sieht in der Krise aber dennoch eine Chance: für mehr Solidarität, Demokratie und Nachhaltigkeit. Frau Professorin Erny, was vermuten Sie, wie wir in zwei Jahren auf diese Zeit zurückblicken werden?
Die Corona-Pandemie wird langfristig bleibende Spuren hinterlassen, da sie unterschiedslos und global alle Menschen gefährdet und betrifft; die Einschnitte, die wir zurzeit zu verzeichnen haben, betreffen uns auch stärker als andere unerwartete Katastrophen wie zum Beispiel Tschernobyl, Aids oder Fukushima, da wir alle unterschiedslos grundlegend in unserem Selbstverständnis getroffen werden.
Vor fast 2.400 Jahren charakterisierte Aristoteles den Menschen als „zoon politikon“, als soziales Wesen. Nun sollen wir just dies nicht sein. Wozu führt die erzwungene „soziale Distanz“?
Das Verbot der Gemeinschaftsbildung geht uns nicht nur gegen den Strich, es geht, und damit hatte Aristoteles eine der grundlegenden anthropologischen Bestimmungen des Wesens des Menschen aufgestellt, gegen unsere Natur. Wir sind soziale Wesen, insofern wäre es ganz sinnlos zu verbieten, dies zu sein; wir dürfen uns nur nicht als gemeinschaftsbildende Wesen verhalten, gerade um unserer Verantwortung als soziale Wesen gerecht zu werden. Das hat etwas zutiefst Widersprüchliches an sich, dem sich schwer gerecht werden lässt. Nur wenn man begreift, dass die erzwungene soziale Distanz uns in Zeiten von Corona in moralischer Hinsicht durch Unterlassung zu verantwortungsvollen Akteuren als soziale Wesen macht, die damit der Gemeinschaft Gutes tun, lässt sich dieses Paradoxon aushalten.
Viele von uns leben in dem Gefühl, den Lauf der Dinge weitgehend kontrollieren zu können: Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung sind die Schlagworte unserer Zeit. Der Mensch strebt nach einer Art „Selbstermächtigung“. Macht uns Corona wieder bescheidener?
Ich fürchte, die Zurückhaltung währt nur für kurze Zeit. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und nach dem ersten Schock und Schrecken regen sich auch hierzulande schon wieder vermehrt die Impulse von Eigeninteressen, politisch und wirtschaftlich. Die von Ihnen angesprochenen Schlagworte, insbesondere die Selbstoptimierung, verweisen allerdings auf ein weiteres Problem: In der im ursprünglichen Sinne des Wortes egozentrischen Besinnung auf das Selbst gerät das Gegenüber, der Andere aus dem Blickfeld. Corona, und darin sehe ich eine Chance, zeigt jedoch auch, dass solidarisches und globales Ziehen an einem Strang die beste Möglichkeit dafür bietet, die Pandemie schnell in den Griff zu bekommen.
Was lehren uns Konsumverzicht und die Reduktion aufs Notwendige?
Damit sprechen Sie eine weitere potenzielle Chance durch Corona an, nämlich die Möglichkeit der Bewusstseinsveränderung. Wenn man in dieser Zeit die Erfahrung macht, dass ein Großteil des gewohnten Konsums unnötig ist, dann würde diese Einsicht Potenzial im Hinblick auf weitere Konsumreduktion und damit einen Schritt in Richtung Stärkung der Nachhaltigkeit bedeuten. Zum anderen wären natürlich auch Möglichkeiten eröffnet, sich über die Faktoren und Kriterien bewusst zu werden, die für ein gelingendes Leben notwendig sind; es wird hier die uralte philosophische Frage nach dem glücklichen Leben berührt. Jedes Jahr x neue Jeans oder T-Shirts, die möglicherweise unter äußerst unglücklichen Arbeits- und Lebensbedingungen in der Produktion hergestellt wurden, gehören vielleicht nicht unbedingt dazu. Ich hoffe, dass sich durch diese Krise bei einem größeren Teil der Bevölkerung als bisher die Einsicht durchsetzt, dass Verzicht auch Gewinn bedeuten kann.
Nicht jeder wird nach Corona aufatmen und weitermachen können. Wer diese Zeit nicht in einem sicheren Job übersteht, sondern den Arbeitsplatz verliert und womöglich mit Kindern in einer Sozialwohnung lebt, wird der Krise kaum Gutes abgewinnen können. Vertieft Corona die sozialen Gräben in unserem Land?
Corona vertieft leider sehr wahrscheinlich die sozialen Gräben in unserem Land – trotz des bisweilen löblichen Engagements der Bundesregierung. Manche erleben die Krise sozial wie materiell aus einer sicheren und gesicherten Position heraus. Andere fürchten Insolvenz, Jobverlust und finanziellen Ruin. Frauen werden durch die Krise nicht nur benachteiligt, sondern wie Kinder auch wieder signifikant stärker als Opfer häuslicher Gewalt gefährdet. Hinzu kommt verstärkte Benachteiligung in Berufen mit geringem Verdienst: im Einzelhandel mit Nahrungsmitteln, im Bereich Soziale Dienste, in Krankenhäusern und Pflege. Man kann nur hoffen, dass die verbal geäußerte Wertschätzung für die Heldinnen und Helden des Alltags sich bald auch in barer Münze auszahlt, was in unserem System sonst auch die gängige Währung darstellt. Doch ich befürchte, dass die durch Corona deutlich sichtbar gemachte Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit schnell wieder in Vergessenheit geraten werden.
Ihre persönliche Lehre aus Corona?
Sich eigener Privilegien bewusst sein, das Selbstverständliche nicht als selbstverständlich zu betrachten und im Bereich der eigenen Möglichkeiten zu versuchen, Corona neben den katastrophalen Auswirkungen auch als Zeichen für Impulse zu betrachten, etwas gegen Leichtfertigkeit, Egoismus und Ungerechtigkeit zu unternehmen.
Das vollständige Interview ist im Online-Magazin der Hochschule Darmstadt »impact – Magazin für angewandte Wissenschaft und Kunst« zu lesen. Weitere Informationen HIER!