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Wissenschaftsstadt. Digitalstadt. Radstadt? Darmstadt hat
Wer morgens Oberbürgermeister Jochen Partsch mit seinem grünen E-Bike auf dem Weg zur Arbeit begegnet, wird mit einem freundlich Nicken gegrüßt. Im Stadtparlament wird über alternativen Verkehr und Mobilitätsketten diskutiert, beim letztjährigen Stadtradeln wurden 164.216 km von Darmstädter*innen gestrampelt. Wer die Darmstädter Straßen nicht selbst kennt, könnte den Eindruck bekommen, dass Darmstadt extrem radfreundlich sei.
Wer allerdings selbst radelt und zum Beispiel vom Hauptbahnhof zum Oberfeld will und dem offi ziellen Fahrradstadtplan folgt, der stößt schnell auf zugeparkte Radwege, irrsinnige Spurenverläufe und Wegabschnitte, die einem innerstädtischer Schlaglochslalom gleichen - das ist die Ost-West Verbindung. Die Nord-Süd Verbindung ist durch Bürgerpark, Pankratius-Fahrradstaße und Herrngarten etwas entspannter, sobald es aber am Ende der Wilhelminen-Fahrradstraße nach Bessungen hinein geht, geraten Radler*innen schnell zwischen Autos, hohe Bordsteine und Straßenbahnschienen. Die Realität der Radfahrer ist in D
armstadt so wie in den meisten Städten der Bundesrepublik Deutschland: Sie sind Verkehrsteilnehmer zweiter Klasse. Daran wird sich so schnell auch nichts ändern, kritisiert Berliner Initiative Changing-Cities: „Wenn CDU/ CSU und SPD, wie im Koalitionsvertrag mehrfach geschehen, Mobilität vor allem als Problem der Automobilwirtschaft begreifen, dann verhalten sie sich wie Dinosaurier, die die Gefährdung ihrer Lebensgrundlage nicht wahrhaben wollen.” Die Zielrichtung der Darmstädter Regierung ist eine anderer.
„Koste es, was es wolle”, sagte OB Partsch in seiner Neujahrsansprache zur Notwendigkeit des Ausbaus der Radwege und des Öffentlichen Nahverkehrs. Trotz einer Gesamtstrategie im grün-schwarzen Koalitionsvertrag von 2011 und „einer Vielzahl von Maßnahmen in den vergangenen fünf Jahren”, wie der Pressesprecher der Stadt auf Nachfrage erklärte, sind die Darmstädter Radfahrer*innen unzufrieden.
Die Unzufriedenen formierten sich Anfang Februar. Nach dem Beispiel der Berliner Initiative „Changing-Cities” und deren „Volksentscheid Fahrrad” haben 13 Darmstädter*innen die Initiative und das Bürgerbegehren „Radentscheid Darmstadt” ins Leben gerufen. Sieben Ziele verbunden mit konkreten Maßnahmen sollen Darmstadt zur Radstadt machen: u.a. fünf Kilometer sichere Radwege an Hauptstraßen, drei sichere Kreuzungen, fünf Kilometer attraktive Nebenstraßen - alles jährlich und nach dem neusten Stand der Technik, heißt es im Flyer der Initiative, auf dem auch Unterschriften gesammelt werden. Davon braucht die Initiative 3.460, dann muss das Stadtparlament die Gültigkeit des Bürgerbegehrens prüfen. Sind beide Hürden überwunden, gibt es einen Bürgerentscheid. Die Initiative sieht als passenden Termin dafür die Landtagswahl am 28. Oktober an. Bekäme der Bürgerentscheid eine Mehrheit von über 50% bei einer Wahlbeteiligung von mindestens 15% der Darmstädter*innen, wäre der Entscheid für drei Jahre bindend.
Die Kosten für die geforderten Umbaumaßnahmen zur Radstadt schätzt „Radentscheid Darmstadt” auf 2,6 Mio. Euro pro Jahr. Das mag manchem vielleicht viel erscheinen, ist aber nur ein Bruchteil der für die Verkehrsflächen und -anlagen sowie ÖPNV veranschlagten Haushaltsmittel - im Jahr 2017 hierfür 53,5 Mio. Euro eingeplant. „Bei 14,8% Radfahrern im Darmstädter Stadtverkehr könnte die Stadt auch 14,8% des Etats (=7,9 Mio. Euro Anm. d. Red.) für Radfahrer nutzen”, meint David Grünewald Ingenieur und Radentscheid Initiator.
Ganz ohne „Radentscheid” will die Stadt bis Ende der kommunalen Wahlperiode im Frühjahr 2021 Radwege von der Waldkolonie nach Weiterstadt-Riedbahn gebaut haben, den ersten Bauabschnitt des Raddirektwegs Darmstadt-Frankfurt fertigstellen und das Projekt „Lincoln by bike” umsetzen. Ob das zum zehnjährigen Regierungsjubiläum von grün-schwarz ein Grund zum Feiern ist?
Stefan Meißner von „Changing Cities” ermutigt: „Mit den erfolgreichen Radentscheiden in Bamberg und Berlin ebenso wie dem neuen Radentscheid Darmstadt geben selbstbewusste Bürger der in einer Sackgasse steckenden Verkehrs- und Flächenpolitik neue Orientierung.”
Also, ist Darmstadt nun Radstadt? Sie kann es noch werden, ist wohl die diplomatische Antwort